Etwas faul im Staate Dänemark

Es war aufregend, so lange der Höhenflug dauerte. «Borgen» (2010 – 2013) bleibt vorbildlich, wie sich kleinräumige Politik scharfsinnig verdichten lässt, und «Die Brücke» (2011 – 2018) mit der umwerfenden Saga Norén beeindruckend im Mix von Kulturen und Persönlichkeiten («Kommissarin Lund» fand ich immer ein bisschen überschätzt). Mittlerweile ist der in unsere Breitengrade importierte Scandi noir in den Niederungen des biederen Durchschnitts angelangt. Etwa bei «Dicte, Gerichtsreporterin», in Dänemark bereits zwischen 2012 und 2016 in drei Staffeln ausgestrahlt, und bei uns allmählich nachzuholen.* Die Sendung basiert auf der schon beinahe Mainstream gewordenen Prämisse einer selbstbewussten, eigenständigen Ermittlerin mit turbulentem Privatleben. Dicte Svendsen ist Gerichtsreporterin bei einer Zeitung in Aarhus und zeigt den männlichen Kollegen und Polizisten, was eine Harke ist. Allerdings wird auf eine realistische Ermittlungsarbeit keinerlei Wert mehr gelegt. Dictes unfehlbarer Spürsinn und gradlinige Technik ersetzen ein ganzes Polizeikorps, und wenn nötig teilt ihr der einzige sympathische Polizist, John Wagner, mehr oder weniger bereitwillig alle offiziellen Ermittlungsergebnisse mit. Die Doppelrolle von Journalistin und Ermittlerin führt nur zum Problem, dass sie ihre Recherchen vor der Publikation zuweilen ein wenig zurückhält.

Interessanter denn als Krimi ist «Dicte» wegen der darin präsentierten Sexual- und Familienpolitik. Dass die Hauptfigur geschieden ist und ihre knapp erwachsene Tochter zwischen Mutter und Vater pendelt, versteht sich von selbst; dass sie ihr erstes, in jungen Jahren und unehelich geborenes Kind auf Druck ihrer Eltern, die zu den Zeugen Jehovas gehören, ins Kinderheim geben musste, verleiht allerdings ein wenig Exotik. Als sich Dicte mit einem Kollegen, dem geschiedenen Fotografen Bo, einlässt, stellt sich schon bald die burschikose Frage: Wollen sie eine Zweierkiste auftun? Ihre eigenen Wohnungen aufgeben und zusammenziehen, und gar vor den Altar schreiten? Aarhus ist allerdings klaustrophobisch eng. So lebt Dictes beste Freundin mittlerweile mit deren Ex-Mann zusammen und will ein Kind von diesem, worauf Dicte als Go-between vermitteln soll, dass ihr Ex-Mann im Moment kein zweites Kind möchte. Die Tochter ihrerseits hat sich mit einem jungen Fussballstar verlobt, den in den Boulevardblättern ein paar Affären einholen; die tränenreiche Trennung erfordert den Einsatz der ganzen Patchwork-Familie. Ach ja, zwischendurch beginnt eine Polizeikollegin von Wagner eine Affäre mit der verheirateten Polizeichefin, und die Verführungen spielen sich gelegentlich im Dienstzimmer ab. Und das alles in eineinhalb Stunden. Gespielt wird in einem knappen Naturalismus, der symbolisch aufgeladen wird – kurze Handlung, entsprechendes Gefühl, so dass möglichst schnell viele Punkte abgehakt werden können.

«Die Brücke» nahm ihren Ausgangspunkt und zog ihren Reiz aus grenzübergreifenden Ermittlungen der dänischen und schwedischen Polizei. Ansonsten aber ist der Niedergang einer Krimiserie absehbar, sobald sie für einen Fall ins Ausland disloziert. Die dritte Staffel von «Dicte» beginnt damit, dass Dictes neuer Gatte Bo einen Fotoauftrag im Libanon annimmt und dort sogleich gekidnappt wird. Wie er der Haft entkommt, darüber erzählt er später eine Version, die bald ins Zwielicht gerät. Zur Rede gestellt und in die Enge seiner Gefühle des Versagens gegenüber dem zurückgelassenen Kollegen getrieben, schlägt er Dicte. Als sie ihm, trotz allem, verzeihen will, eröffnet er ihr, dass er wieder mit seiner Ex-Frau schläft – die folgende Folge beginnt damit, wie Dicte seine Hi-tech-Apparate aus der gemeinsamen Wohnung zerhackt.

Alle diese emotionalen Belastungen hindern unsere Journalistin nicht daran, auf die Schnelle zwei dubiose Todesfälle in einer psychiatrischen Klinik aufzuklären, auf die sie ihre Tochter aufmerksam gemacht hat, die dort gerade ein Praktikum absolviert. Dicte nistet sich mitfühlend bei den jeweiligen Angehörigen ein (ob ihre Berufsbezeichnung als Journalistin dabei hilft oder behindert, bleibt offen), und steckt schon auch mal einer Insassin ein Zigarettenpäckchen durch das Gitter, mit dem der Aussenbezirk der psychiatrischen Klinik abgesperrt ist. Drei Verdächtige werden kurz erwogen: ein Mitinsasse, der wegen sexueller Übergriffe eingeliefert worden ist und der Tochter bedrohlich hinterher spioniert; der Oberarzt, der zu erkennen gibt, dass er die Leben der beiden Getöteten nicht mehr für lebenswert hielt; und ein drogenabhängiger Pfleger. Aber die fallen jeweils nach fünf Minuten aus Abschied und Traktanden. Denn Dicte schlussfolgert aus einigen dubiosen Gefühlsreaktionen, dass zwei Angehörige von Insassen sich zu einem Pakt verbunden haben, aus Mitleid dem jeweils anderen unheilbar Kranken Sterbehilfe zu leisten. Dicte ihrerseits schafft den Übergang von der mitfühlenden Vertrauten der Angehörigen zur entlarvenden Strafverfolgerin mit ein paar schnellen Kummerfalten.

Dabei ist ihr Einsatz umso nötiger, da sich Wagner vorübergehend hat beurlauben lassen, und der Polizist, der an seiner Stelle die Untersuchung leitet, ein sexistisches Fossil ist, was augenrollend aber doch akzeptiert wird, zumindest eine Folge lang; immerhin beginnt die temporäre Ersatzpolizistin für Wagner, bei der es sich (es ist klaustrophobisch in Aarhus) um dessen Ex-Frau handelt, langsam zu zeigen, was eine Harke ist.

Dictes Tochter hat mittlerweile festgestellt, dass sie schwanger von einem One-Night-Stand ist, und will abtreiben. Aber ihre neue Mutter in der Patchwork-Familie, die als Krankenschwester arbeitet (was Dicte bei einigen Fällen zupass kommt), fragt sie, ob sie nicht gemerkt habe, dass sie bereits viereinhalb Monate lang schwanger sei, was eine Abtreibung verunmögliche. Worauf sich drei Elternteile verständnisvoll über die Tochter beugen (den Ex-Mann der besten Freundin habe ich aus den Augen verloren) und beschliessen, sich auf ihr Dasein als Grosseltern zu freuen.

Dänemark gehörte mal zum glücklichen nordischen Wohlfahrtsstaatsparadies, aber das ist ja längst vorbei. «Borgen» bildete die Bedrohungen durch zerfallende Solidargemeinschaften und Rechtspopulismus differenziert und kritisch ab; in «Dicte» sind sie als blosse Zeichen schon unkritisch entschärft, ja verinnerlicht.

sh


* Die ersten beiden Staffeln liefen bzw. laufen auf SRG bzw. ZDF neo; der britische Channel 4 bringt gegenwärtig die dritte und letzte Staffel.

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