Wessen Realität?

Die neue griechische Regierung ist arrogant und extrem, melden die Medien. Oder sind es womöglich ihre Gegner?

Von Stefan Howald

So schnell ging es noch selten: Vor zwei Wochen war der neue griechische Finanzminister Yanis Varoufakis ein Popstar mit Sex-Appeal. Jetzt ist er ein arroganter Traumtänzer. Von den Medien hochgeschrieben und niedergemacht in ein paar Tagen.
Eine Schlüsselrolle kommt dabei der «Realität» zu. Zuerst war es eine Drohung vor den Verhandlungen Griechenlands mit den Institutionen der Eurozone: Die neue griechische Regierung müsse schleunigst auf den Boden der Realität zurückkehren. Dann wurden die Verhandlungen, noch bevor die Resultate wirklich bekannt waren, kaum verhüllt hämisch als Unterwerfung beschrieben: Nach ihren vollmundigen Ankündigungen seien die Griechen jetzt tatsächlich hart auf dem Boden gelandet.
Was aber ist diese so apodiktisch geforderte und verkündete Realität?
Nun, die eine handfeste Realität ist die unerträgliche Lage vieler arbeitsloser und verarmter Menschen in der Eurozone. Die «Realität», die die Kommentatoren meinen, ist allerdings etwas ganz anderes, nämlich die neoliberale Machtpolitik, angeführt von Deutschland. Realität ist das, was diejenigen, die das Sagen haben, für real erklären.
Man kann doch nicht einfach Abkommen und Verträge als ungültig aufkündigen, drohen protestantische Juristen und ihre Nachbeter. Natürlich kann man das. Dann nämlich, wenn Verträge unzumutbar sind und/oder ihren Zweck nicht mehr erfüllen können.
Immer wieder ist über die Streichung illegitimer Schulden verhandelt worden, nicht nur aus ethischen sondern auch aus ganz praktischen Gründen. Man traut sich kaum mehr, daran zu erinnern, was mittlerweile alle wissen sollten: dass Deutschland mit dem Londoner Schuldenabkommen 1953 massiv von einem solchen Schuldenerlass profitiert hat.
Man kann doch nicht als politischer Neuling plötzlich politische Traumschlösser fordern, meinen die Vertreter jener Institutionen, die seit sechs Jahren eine verheerende Wirtschaftspolitik betrieben haben. Nun, Yanis Varoufakis ist ein wissenschaftlich anerkannter Ökonom, und seine Ideen sind keine Hirngespinste. Im angelsächsischen Raum gilt er als Kapazität in der Entschuldungsfrage. Liberale Ökonomen wie die Nobelpreisträger Paul Krugman, Joseph Stiglitz oder der «Financial Times»-Kommentator Martin Wolf bezeichnen seine Vorschläge schlicht und einfach als sinnvoll. Selbst US-Präsident Barack Obama hat sich wohlwollend geäussert – nicht aus Altruismus natürlich, sondern aus eigenen ökonomischen Interessen, weil den USA eine stabile Eurozone mehr nützt.
Wenn man solch radikale Analysen verbreitet und tolle Massnahmen verspricht, wie die neue Regierung, dann kann man doch nicht sogleich einknicken, meinen diejenigen, die zu mächtig sind, um einknicken zu müssen. Aber Yanis Varoufakis und die Tsipras-Regierung haben immer betont, es gehe um eine Stabilisierung angesichts der gegenwärtigen unhaltbaren Situation, um pragmatische Sofortmassnahmen, ohne eine grundsätzlichere Perspektive aufzugeben. Die Revolution soll, wenn überhaupt, später kommen.
Tatsächlich sind die gegenwärtigen griechischen Forderungen nicht radikal. Es geht um den Ausbruch aus der Verschuldungsspirale. Es geht um die Bekämpfung der Steuerhinterziehung (wozu die Schweiz sicherlich ihren bedeutenden Beitrag leisten wird). Es geht darum, nicht jede inländische Marktnachfrage durch weitere Sparanstrengungen abzuwürgen. Und man sollte nicht aus ideologischen Gründen einen hohen Überschuss des Staatshaushalts erzwingen wollen. Das entspricht alles dem gesunden Menschenverstand.
Die Politik der griechischen Regierung ist notwendig und machbar. Wer etwas anderes unterstützt, vertritt eine unsinnige und menschenverachtende Interessenpolitik.

Dieser Artikel erschien als Meinungsbeitrag im Tages-Anzeiger vom 2. März 2015.
Stefan Howald ist Redaktor bei der WOZ – Die Wochenzeitung. In der WOZ-Nummer 9 vom 26. Februar ist ein längerer Grundlagentext von Yanis Varoufakis abgedruckt.

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