Ein neuer Kosmopolitismus?

 

Étienne Balibar in Zürich

Der erstmalige Besuch im neuen Toni-Areal in der Zürcher Hochschule der Künste ist ein kulturanthropologischer Gang. Treppen hinauf, und dann nochmals hinauf: Der Eintritt muss mit Arbeit erkauft werden. Die Eingangshalle ist hoch, aber vergleichsweise schmal; links die Cafeteria, geduckt unter einem tief eingezogenen Dach, dunkel im Halbdunkel der Halle, nur vor dem Schaudepot des Museums für Gestaltung ist eine lichte Konstruktion aus Tischen und Stühlen und Balustraden aus hellem Holz aufgebaut, sicherlich für sehr viel Geld (wir sind hier in Zürich).
Es gibt sie immer noch, die akademische Viertelstunde. Fünf Minuten vor dem offiziellen Vortragsbeginn um 18 Uhr ist der eher verschämt angeschriebene Grosse Hörsaal noch leer. Dann schlendern die StudentInnen langsam hinein. Grosser Hörsaal? Ein öder viereckiger Raum, in den 150 Stühle hineingestellt worden sind. Vielleicht soll diese art brut et nu den Geist konzentrieren helfen.
Zu Gast ist Étienne Balibar. Mittlerweile auch schon 73 Jahre alt, hat er einst noch mit Louis Althusser zusammengearbeitet, also ist er wohl eher erst 73 Jahre alt – im Übrigen ist das Gemeinschaftswerk Lire le capital von 1968 soeben in einer neuen deutschen Fassung erschienen, was dessen Ungleichzeitigkeit wieder ein bisschen gleichzeitiger macht. Ab den achtziger Jahren hat Balibar zu Rasse, Klasse und Nation gearbeitet, die Grenzen der Demokratie erkundet, sich Gedanken über eine neue globale Bürgerschaft gemacht, auch den Begriff der Egaliberté geschaffen, die Gleichfreiheit, wonach in der Demokratie Freiheit und Gleichheit untrennbar zusammengehören.
Balibar ist also einer der führenden linken Intellektuellen, und der Hörsaal ist dann, bei Ablauf der akademischen Viertelstunde mit gut hundert Leuten anständig gefüllt, ein paar wenige ergraute Semester dazwischen. Roberto Nigro, dessen wissenschaftliche Tätigkeiten an verschiedenen europäischen und US-Universitäten ein halbes A4-Blatt füllen, stellt den Referenten vor, erklärt, dass er selbst bei diesem studiert und wie dieser ihn beeinflusst habe; dann listet er ein paar Werke von Balibar auf, ohne mit einem Wort zu verstehen zu geben, dass er mit dessen Werk etwas anzufangen versteht.

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Auftritt eines älteren jovialen Herrn, fliessendes, wenn auch weiterhin stark akzentuiertes Englisch. Sein Buch über die Diktatur des Proletariats, das Nigro erwähnte, suche ihn noch heute schamvoll heim, macht er einen Witz: blankes Nichtverstehen in den Gesichtern der StudentInnen. Dann spult er seinen Vortrag schnell ab. Er führt Fragestellungen und Begriffe ein, mit vielen Verweisen auf andere Namen, Konzepte. Überprüfungen, Rücknahmen, Qualifizierungen. Nach einer Stunde, auf die zögerlich vorgebrachten Fragen, beginnt er auch rhetorisch zu glänzen in einem Stil, der sich live an der Komplexität abarbeitet, diese Form der Verfertigung der Gedanken beim Denken und Reden, die auch bei Stuart Hall, mit dem Balibar gelegentlich zusammengearbeitet hat, so eindrücklich war.
So umkreist er Nationalismus und Bürgerrechte und einen neuen möglichen Kosmopolitismus. Das ist nicht immer ganz neu (was er auch nicht behauptet), aber legt Vorstellungen und Dinge immer differenzierter auseinander. Angesichts des Zerfalls des Nationalstaats, der sich seit ein paar Jahrzehnten vollzieht (und das jüngste Aufkommen des Nationalismus muss dazu nicht im Widerspruch stehen) erscheinen der Fremde, und die Fremde, in neuer Form. Es gibt, liesse sich einfügen (fügt er später ein), immer Fremde. Die treten an den Grenzen auf (die es immer geben wird). Die Grenzen verschieben sich aktuell, werden durchlässiger und stärker zugleich. Das manifestiert sich auf verschiedenen Ebenen, mit Innen- und Aussengrenzen. Aufgebaut worden sind, handfest, brutal, der Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko, die israelische Grenzmauer. Aufgebaut wird die Festung Europa. Einst wurde die afrikanische Migration nach Europa brutal in den Lagern in Libyen geregelt, jetzt ist sie näher gerückt, nach Lampedusa, nicht weniger brutal. Es findet statt, Teil davon und mehr, der Kampf gegen das und die Ausgrenzung des globalen Proletariats.
Die Frage ist: Müssen diese Fremden zu Feinden werden, oder können sie zu Mitbürgern werden (englisch, als geschlechtsneutral gesagt)? Die EU wirkt durchaus widersprüchlich. Als Festung Europa konstruiert sie den Fremden als Feind, innerhalb ihrer Grenzen versucht sie, die NationalbürgerInnen als Nachbarn zu konstituieren. Die demokratische Selbstverantwortung trifft auf imperialistische Praktiken. Der Nationalstaat unterhöhlt sich dabei in zweierlei Hinsicht: Der globalen Wirtschaft opfert er seine eigene wirtschaftspolitische Abdankung, und mit den politischen Zentralisierungstendenzen schafft er sich im engeren Sinn politisch ab.
Aber kehrt nicht der Nationalismus zurück (wäre eine Zwischenfrage)? Nun, Nationalstaat und Nationalismus sind nicht ganz dasselbe. Im Übrigen (liesse er sich ein wenig überinterpretieren) lässt sich «der Nationalismus» nicht als Entität behandeln, die beliebig (von denen da unten) abgerufen oder (von denen dort oben) eingesetzt werden kann. Auch Nationalismus ist heute vielfältig durchzogen, fliessend, so wie alle Identitäten. Und hier folgt natürlich der Hinweis auf Hall und Gayatri Chakravorty Spivak und die anderen TheoretikerInnen des Postkolonialismus. Allerdings, eine Gesundheitswarnung: Der modische Nomadismus ist ein elitäres Konzept.
Was wäre also dagegen zu setzen (fragt er sich und wir uns)? Wir brauchen (und das ist auch gegen den ansonsten geschätzten Jürgen Habermas gewandt) nicht Postnationalismus, sondern Transnationalismus. Wenn wir Hannah Arendts «Recht auf Rechte» einfordern, so braucht es dafür Institutionen, und die garantiert gegenwärtig immer noch der Nationalstaat. (Das ist ein interessanter Rückgriff auf Arendts Totalitarismusbuch, das doch sonst in den Hintergrund getreten ist; Arendt schränkte diese Rechte dann allerdings aufs Politische ein.) Das heisst, die historisch notwendige, aber transitorische, oder die transitorische, aber gegenwärtig noch notwendige Rolle des Nationalstaats ist konkret herauszuarbeiten. Denn man könnte sagen, das Universum der Menschenrechte gehe schon darüber hinaus. Allerdings ist das supranationale (im Gegensatz zum transnationalen) Argument ebenfalls gefährlich, etwa bei Martin Schulz (einmal konkret politisch gesprochen), dem EU-Parlamentsvorsitzungen, der von Europa als globaler Macht spricht (und, muss beigefügt werden, im Verhältnis zu Griechenland schockierend arrogant aufgetreten ist – wie überhaupt die SPD … ein Trauerspiel).
Gegen den Vorwurf aus dem Publikum, das sei nichts Neues, sondern (leicht kokett), Entschuldigung, der alte weisse Kolonialismus, meint er, (leicht kokett), das sei ein interessanter Einwurf, aber er habe doch entschieden «ein neues Regime der Differenz» skizziert, das oder die nicht in Machtpositionen umgesetzt werden. Ein positives Zauberwort in diesem Zusammenhang ist die translation (gleichlautend, aber nicht gleichbedeutend in zwei Sprachen), die Übersetzung, zwischen Differenzen, Kulturen, was ja immer auch ein Umgang mit den eigenen zerfliessenden Identitäten ist.
Was dann zur Co-Citizenship führt, die nicht ganz die gleichen Rechte garantiert (aber umgekehrt auch nicht essentialistisch gedacht ist), sondern ganz praktisch die Möglichkeit, gemeinsam zu handeln.
Eine philosophiehistorische Anknüpfung (oder zwei, die andere, die zuerst wieder rekonstruiert werden müsste über die polis und den demos, die, zwar ausgrenzend in einer Klassengesellschaft, doch immer schon die soziale Komponente einschliessen): Spinoza (immer wieder er). Dessen «Convenientia», als Übereinkunft, Vereinbarkeit, gemeinsame Interessen, vielleicht auch Solidarität (fügt er bewusst anachronistisch an).
Was heisst das politisch, ganz praktisch und in Stichworten (wobei der neue Kosmopolitismus eine Chiffre dafür wäre)? Erstens transnationale Elemente fördern. Zweitens zivilen Widerstand gegen die Brutalisierung der Grenzpolitik. Drittens geht es nicht um (Volks)Souveränität, sondern um Rechte. Insgesamt müssen Fremde mehr Rechte erhalten. Viertens ist die Demokratie ein Prozess: Die Demokratie schafft den demos. Siehe auch: «Volkes Wille? Warum wir mehr Demokratie brauchen». Zürich 2014, Seite 180 (historisch) und Seiten 253ff. (aktuell).

Stefan Howald

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