Wie Griechenland betrogen wurde – und was das für Konsequenzen haben sollte

Die griechischen Schulden sind nicht nur untragbar, sondern auch illegitim, ja illegal. Das hat eine Spezialkommission soeben festgestellt. Wie können deren Ergebnisse politisch und juristisch verwendet werden?

Von Stefan Howald

Dass Griechenland seine Schulden nicht wird zurückzahlen können, ist jedermann ausser den grössten IdeologInnen der Eurozone klar. Es wird einen Schuldenschnitt brauchen. Aber die Schulden müssten aus juristischen Gründen ganz gestrichen werden. Dies meint die vom griechischen Parlament eingesetzte «Wahrheitskommission zu den öffentlichen Schulden». In einem Bericht belegt sie detailliert, mit welchen Mitteln Griechenland seit 2010 Kredite aufgezwungen wurden, die nationales und internationales Recht verletzten. Das gilt ihres Erachtens für alle Kredite: diejenigen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB), des Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus, sowie bilaterale und private Kredite. Deshalb sollten praktisch alle Staatsschulden von 312 Milliarden Euro gestrichen werden.
Die Kommission beruft sich auf das Konzept der «illegitimen Schulden». Die moderne Debatte darüber lässt sich bis 1898 zurückverfolgen. Damals weigerten sich die USA nach dem Krieg gegen Spanien, die Schulden des eroberten Kuba gegenüber Spanien zu übernehmen: Diese seien «odious» (verabscheuenswürdig), da sie der kubanischen Bevölkerung aufgezwungen worden seien. Nach dem Ersten Weltkrieg beriefen sich die Regierungen von Russland und Polen auf die Argumente der USA, um die Rückzahlung der von früheren Regimes eingegangenen Schulden verweigern zu können.

Menschenrechte verletzt
Daraus systematisierte der russische Völkerrechtler Alexander Nahum Sack 1927 das Konzept der «odious debts». Die Idee schlummerte im wissenschaftlichen Kuriositätenkabinett, bis sie im Zusammenhang mit der Schuldenkrise der Dritten Welt und der durch diktatorische Regimes aufgenommenen Kredite aktualisiert wurde. In den letzten Jahren hat sich ein Konsens entwickelt: Illegitim sind Kredite, wenn die Verwendung der geliehenen Gelder gegen die öffentlichen Interessen, insbesondere gegen Menschenrechte, verstösst, wenn sie auf undemokratische Weise abgeschlossen worden sind, und wenn die Kreditgeber über die fragwürdigen Hintergründe der Kredite Bescheid wissen konnten.
Im Fall der Schulden, die das Apartheidregime in Südafrika einst einging, ist der Versuch, dieses Konzept politisch einzuklagen, gescheitert. Ein wenig erfolgreicher war Ecuador, das sich teilweise Erlasse mit Gläubigern aushandeln konnte.
Das Konzept der illegitimen Schulden ist radikal politisch, aber es hat auch eine konkrete juristische Seite. Politisch sollen Kredite auf ihren Nutzen zugunsten einer menschengerechten Entwicklung geprüft werden. Juristisch wird versucht, innerhalb des herrschenden Rechtssystems Ansatzpunkte zur Schuldenstreichung zu finden. Was heisst das im Fall Griechenland?
Am 4. April setzte die Parlamentspräsidentin Zoi Konstantopoulou eine «Wahrheitskommission zu den öffentlichen Schulden» ein. Zu ihrem Vorsitzenden wurde der belgische Ökonom Eric Toussaint berufen. Dieser arbeitet seit Jahren für das Comité pour l’annulation de la dette du Tiers Monde und beriet 2008 die ecuadorianische Regierung, als diese Zinszahlungen auf «illegitime« Kredite einstellte. Am 18. Juni hat die Kommission einen 60-seitigen Bericht vorgelegt.
Darin kommt sie zum Schluss, dass die ausstehenden Kredite von 317 Milliarden Euro illegitim seien. Die Austeritätspolitik habe Menschenrechte verletzt und sei von der Troika bei der Kreditvergabe durch Druck auf die griechische Regierung durchgesetzt worden. Nun ist das politisch eine zweifellos richtige und nötige Kritik. Auf juristischer Ebene braucht es allerdings konkretere Kriterien, etwa die Verletzung von Gesetzen oder interner Richtlinien.

Korruptionsfälle
Dazu liefert die Kommission viel Material. So belegt sie, wie griechische Verfassungsbestimmungen bei der Kreditvergabe ausgehebelt worden sind. Sie dokumentiert nochmals, wie die Investmentbank Goldman Sachs und später auch die EU-Kommission Bilanzfälschungen der konservativen griechischen Regierungen gedeckt haben. Besonders augenöffnend ist die Auswertung interner IWF-Berichte. Schon 2010 haben IWF-Studien vor der Austeritätspolitik in Griechenland gewarnt und moniert, dass einseitig die Interessen der privaten Investoren berücksichtigt würden. Im Februar 2012 prognostizierte ein internes Memorandum, durch neue Kredite werde die griechische Staatsschuld womöglich auf 160 Prozent steigen, was sich bei der öffentlichen Präsentation im März wundersam auf 117 Prozent reduzierte. Ein solches Vorgehen verletzt die Richtlinien der Institution.
Auch die EZB hat laut Kommission ihr eigenes Mandat verletzt, indem sie ihre Unabhängigkeit im Interesse der grossen EU-Mitgliedsländer aufgegeben habe. Zudem habe sie griechische Kredite billiger als zum Nominalwert aufgekauft und den Gewinn dann nur unter strikten Auflagen zurückbezahlt.
Beiläufig erwähnt die Kommission einen spezifischen Fall: Im Athener Vorort Zografou gewährte die österreichische Bank KommunalKredit 2006 einen Kredit über 25 Millionen Euro für einen dubiosen Landkauf, der von den zuständigen staatlichen Instanzen nicht geprüft wurde; nachdem sich die Lokalverwaltung geweigert hatte, die Kreditraten zu bezahlen, musste die Athener Regierung im Jahr 2011 einen IWF-Kredit aufnehmen, um die Rückzahlung samt aufgelaufener Zinsen garantieren zu können. Ähnliche Beispiele liessen sich zuhauf finden, und damit auch zusätzliche Argumente für die Illegitimität der griechischen Schulden. Das gilt beispielsweise für die Korruptionsfälle im Telekommunikationsbereich, in die der deutsche Konzern Siemens verwickelt ist, oder für den Ankauf unnötiger deutscher Waffensysteme. Aber die öffentliche Meinung in Deutschland und die deutsche Regierung versuchen weiterhin, von ihrer Mitverantwortung für diese illegitimen Schulden abzulenken.
The Truth Committee on Public Debt. Preliminary Report, June 2015. http://cadtm.org/Preliminary-Report-of-the-Truth

Dieser Beitrag erschien in der WOZ – Die Wochenzeitung Nr. 26/15 vom 25. Juni 2015.

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