Münchhausen: eine Vernissage

Sehr geehrte Damen und Herren, geehrte Münchhausianerinnen und Münchhausologen, liebe Freundinnen der Fantastik, Verächter der Lügen und Fans der Weltliteratur

Wir begrüßen Sie ganz herzlich zu dieser Buchvernissage im bücherraum f in Zürich-Seebach. Sie atmen hier durchaus historischen Atem. Ganz in der Nähe hat sich ja jener Vorfall abgespielt, der nicht nur in die Weltliteratur eingegangen ist, sondern auch einen wesentlichen Einschnitt in der abendländischen Philosophie darstellt. Im Binzmühlegebiet ist der kühne Baron von Münchhausen samt Pferd beinahe jämmerlich in die Binsen gegangen; wir werden darauf zurückkommen.

Aber beginnen wir am Anfang. Hieronymus von Münchhausen ist ja vor genau 300 Jahren, am 11. Mai 1720, in Bodenwerder geboren worden. Es war ein strahlender, geradezu heißer Tag, und kaum hatte der junge Erdenbürger das Licht der Welt erblickt, verlangte er mit kräftiger Stimme nach stärkendem Bier, ein Getränk, das er bald für edlere Tropfen eintauschte. In einem Nebengebäude, der «Schulenburg», ist mittlerweile ein Museum eingerichtet; während das ehemalige Herrenhaus der Adelsfamilie heutzutage, wie es sich gehört, als Rathaus dient.

Hieronymus ist der Anlass für diese Veranstaltung und für das Buch, das wir Ihnen nachher gerne präsentieren werden. Aus der Partnerstadt Bodenwerder haben uns die besten Wünsche erreicht, die wir hiermit erwidern möchten. Insbesondere begrüßen wir Claudia Erler, unermüdliche Museumsleiterin. Dank für vielfältige Unterstützung in der Causa Münchhausen gilt Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sowie Landesbischof Ralf Meister. Es freut uns sehr, dass Politik und Kirche sich in diesen denkwürdigen Zeiten zusammengefunden haben. Begrüßen möchten wir auch Fred Burkert als Vertreter der Samtgemeindeverwaltung Bodenwerder-Polle sowie verschiedene Mitglieder beiderlei Geschlechts der mittlerweile doch recht weit verzweigten Familie Münchhausen. Unser Dank gilt zudem Axel Halle, dem unermüdlichen Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek Kassel – Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, der dieses Buch nicht nur angeregt, sondern neben dem nicht immer ganz erquicklichen Umbau des Ausstellungsraums in der Bibliothek Zeit gefunden hat, seinen Fortgang freundschaftlich zu begleiten.

Um Hieronymus also geht es zuvörderst. So hat er im Alter ausgesehen, in Kupfer gestochen von Gottlieb Müller. Oder vielleicht hat er auch nicht ganz so ausgesehen. Es ist halt so eine Sache bei ihm und um ihn mit den Fakten und den Fiktionen.

Tatsächlich: Münchhausen, wie wir ihn lieben und schätzen, ist sowohl eine historische wie eine literarische Gestalt. Die Beziehung zwischen den beiden ist durchaus nicht ohne Spannung. Hieronymus hat, wie schon erwähnt, ein langes Leben gelebt, wohl nicht zuletzt gekräftigt wegen der frühen Stärkung durch ein kühles Blondes aus der Familienbrauerei. Dieses sein Leben teilt sich in zwei Phasen. Von früher Jugend an bis ins 30. Lebensjahr durchreiste er fremde Länder, residierte an prunkvollen Höfen, nahm an dramatischen Schlachten ebenso wie an grandiosen Festen teil. Ab 1750 hat er in Bodenwerder gelebt. Und er hat wohl zusehends in der Vergangenheit gelebt, über die er bei einem Glas Tokajer schnurrig und launig berichtete. Ja, man könnte sagen, er hat zusehends in den eigenen Erzählungen gelebt und sich dabei allmählich in seinen eigenen Mythos verwandelt. Als der dann von verschiedener Seite aufgegriffen und in die Öffentlichkeit getragen worden ist, hat ihn das freilich nicht sehr befriedigt, und er hat die verantwortlichen oder auch die nicht verantwortlichen Skribenten mit deutlichen Worten dafür gescholten. Wer möchte denn nicht die Verfügungsgewalt über die Erzählungen zur eigenen Person besitzen?

Allerdings, so geht ein Gerücht, soll der Autor vor mehr als fünfzig Jahren von Roland Barthes zu Grabe getragen worden sein. Beim Baron von Münchhausen verkompliziert sich die Sache, weil er nicht nur Hieronymus, sondern daneben mehrere weitere Personen als mögliche Autoren vorzuweisen hat. Über diese verwickelte Geschichte könnte man ganze Bücher verfassen; wir begnügen uns hier mit ein paar wenigen kräftigen Strichen. Dabei würde es uns nicht ganz richtig dünken, die verschiedenen Autoren in der Ursuppe, besser: im Ursumpf der historischen Entwicklung versinken zu lassen, ohne ihnen Hilfe in Form eines wohlgeformten Haarzopfes anzubieten. Auch die künstlerische Produktion hat trotz aller nicht mehr so ganz modischer Importe aus Frankreich immer noch, mit Bertolt Brecht gesprochen, Name und Anschrift.

Zuerst soll jetzt aber auf den genius loci eingegangen werden. Wie, werden Sie sich fragen, ist denn der weitgereiste Münchhausen in den Seebacher Binsen gelandet? Nun, das trug sich folgendermaßen zu. Zu seinen Zeiten befand sich im Zürcher Unterländer Weiler D. eine kleine, aber gediegene Pferdezucht, deren Ruhm sich im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitete – noch heute pilgern ja etliche Pferdefreunde an den Fuß der Lägern. Auch Münchhausen erfuhr davon, und als begnadeter Reiter und Jäger wollte er einem der Pferde habhaft werden. Gesagt, getan, und nach erfolgreich getätigtem Handel, dessen Details uns hier nicht weiter interessieren sollen, ritt er vergnügt von dannen.

Wie Sie wohl wissen, war das jetzt so dicht überbaute Grenzgebiet zwischen Seebach und Oerlikon im 18. Jahrhundert noch kaum kultiviert. Der Name Seebach geht ja auf jenen Bach zurück, der mittlerweile als Chatzenbach vom Chatzensee über den Büsisee in den Leutschenbach fließt, der das Gebiet seinerseits im Süden begrenzt. Dazwischen lag eine mit Binsen bewachsene Niederung, von der die Binzmühle und das Binzmühlequartier ihren Namen beziehen. Das 1212 erstmals erwähnte Mühlengebäude, zugleich die erste urkundliche Erwähnung von Seebach, wurde 1961 abgebrochen. Das Nachbarhaus, der «Tannenhof» aus dem Jahr 1678, steht noch, an der jetzigen Allmannstrasse 4, fünf Minuten von hier entfernt.

In dieses Binsengebiet geriet der Baron nun beim Heimritt, sei es, weil, wie ein eminenter Literaturwissenschaftler in anderem Zusammenhang erklärt hat, die Dufour-Karte die Schweiz erst ab 1845 abbildete, sei es, weil Münchhausen dem doch eher herben Zürcher Landwein etwas gar stark zugesprochen hatte. Dabei sank sein Pferd allmählich im Feuchtgebiet ein – in diesem Zusammenhang von einem Sumpf zu sprechen, wie es Gottfried August Bürger in seinen nachträglichen ‹Erzählungen› tut, ist wohl eher dessen Hang zum Übertreiben geschuldet. Die Gefahr freilich war sehr real und seine Abhilfe ebenso real wie ingeniös: sich am eigenen Haarzopf aus den Seebacher Binsen emporzuziehen.

Diese Episode und Bürger sind ja einigermaßen bekannt. Deshalb sollte im neuen Band mit neuen Perspektiven, da sind sich die Herausgeber einig, vor allem Rudolf Erich Raspe in den Vordergrund gerückt und geschoben werden.

Münchhausen war ein streitbarer Mensch. Auch Rudolf Erich Raspe hat sich immer wieder in Auseinandersetzungen verwickelt gesehen. Andrea Linnebach rückt im hier präsentierten Buch eine solche Auseinandersetzung in die zeitgenössische Gelehrtenrepublik. Raspe tritt in Erscheinung als Parteigänger von Lessing in einem öffentlichen akademischen, mit heftiger Polemik ausgefochtenen Streit. Als Aufklärer hat er sich zwangsläufig in den avanciertesten Debatten engagiert. Melanie Beese zeigt auf, wie die aufstrebenden Naturwissenschaften ihren Niederschlag in seinen Erzählungen finden. Laura Tarkka-Robinson beschreibt Münchhausen als aktiven Propagandisten der Aufklärung und die hannoversche Aufklärung als eine spezielle Variante dieser großen geistigen und materiellen Bewegung.

Ecrasez l‘infâme!, hieß einer der Schlachtrufe dieses versuchten Ausgangs aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit; entsprechend geht Martin Scharfe in seinem Beitrag blasphemischen Passagen im Münchhausen nach und belegt, wie das Buch als Bestandteil einer untergründigen volkstümlichen antiklerikalen Strömung eine grundsätzliche Religionskritik transportiert – wir bitten Herrn Landesbischof Meister hier um christliche Nachsicht. Die Auseinandersetzung mit der Kirche wird auch in anderem Zusammenhang virulent: Franziska Maag analysiert einen als Kinderbuch getarnten russischen Münchhausen aus dem Jahr 1860 als scharfe antizaristische und antipopistische Kampfschrift. Wobei das Blasphemische immer auch ins Schlüpfrige und Skatologische übergeht – wer könnte je die Austernmahlzeiten des Papstes vergessen, aus deren Konsequenzen sich die Familie Münchhausen ja herleitet, oder zumindest ein Zweig der Familie, dem, wie wir sogleich klarstellen möchten, niemand der heute hier anwesenden Münchhauserinnen und Münchhauser angehört.

Apropos Papst und Austern und umstrittene Urheber- und Nachkommenschaften: Zum Spiegelkabinett unterschiedlicher Vaterschaften des Münchhausen ist auch in jüngerer Zeit eifrig angebaut worden. So hat kurz nach dem Ersten Weltkrieg und der russischen Revolution der polnisch-russische Autor Sigismund Krzyżanowski den alten Hieronymus noch leibhaftig erlebt, der offenbar in geradezu jungfräulicher Weise seinem eigenen Buch entsprungen war, worüber Krzyżanowski in einem menschlich ebenso anrührenden wie erkenntnistheoretisch verstörenden Porträt berichtet, dessen Übertragung aus dem Russischen ins Deutsche uns die Übersetzerin Dorothea Trottenberg mit einer Leseprobe vorstellt, kommentiert von ihr und Thomas Grob.

Kürzlich ist Hieronymus sogar in einem Münchner Vorgarten gesichtet worden. Harry Kämmerer schildert die philosophischen Zugewinne und gartenbaulichen Kollateralschäden dieser unerwarteten Begegnung der dritten Art. Peter Weber bringt einen weiteren Baron ins Spiel, der mit magischen Bohnen um sich werfen soll, und dies in Zürich, ausgerechnet! Genug der Fantastereien, ist man versucht zu sagen.

Deshalb möchten wir hier ein kurzes musikalisches Intermezzo einspielen. Vielleicht könnte Anna-Verena den ipod in Gang bringen; und dürften wir auch die hinteren Reihen um etwas Ruhe und Aufmerksamkeit bitten, damit wir uns ganz dem Genuss dieses Zusammenschnitts all jener Töne hingeben können, die in den verschiedenen Fassungen aus Münchhausens Posthorn neben dem Kachelofen in der Kaschemme aufgetaut sind und den Baron und sein Gefolge unterhalten haben. Frieder von Ammon ist diesen Tonspuren im vorliegenden Band minutiös nachgegangen. Dabei zeigen sich nicht nur lautmalerische Varianten – Tereng! Tereng! Teng! Teng! – mit mehr oder weniger Ausrufezeichen, sondern zuweilen lässt sich eine Jukebox des zeitgenössischen musikalischen Geschmacks ausmachen.

Münchhausen ist auch ein visuelles Geschehen, wie die folgende Diaschau vergegenwärtigt.

Vielleicht könnten wir dazu das Licht ein wenig herunterschalten oder dimmen. Ja, danke, das sollte reichen.

Rudolf Erich Raspe hat ja selber Illustrationen verfertigt; doch der gewaltigste und wirkungsmächtigste Illustrator ist ohne Zweifel der industrielle Romantiker Gustave Doré. Der leider verstorbene Norbert Schneider demonstriert dies im vorliegenden Sammelband in aller Pracht. Da ist einerseits die überbordende Fantasie, mit der Doré zum Beispiel die fantastische Meeresfauna aufzeichnet, die Münchhausens Vater während des Ritts auf dem Grund des Ärmelkanals begegnet ist; und da sind andererseits die kühnen Perspektiven, in denen Doré das Geschehen zeigt, etwa wenn sich Münchhausen zwischen Krokodil und Löwe wiederfindet. Manche dieser Doré-Zeichnungen sind in unserem Prachtband abgedruckt, neben vielen anderen. Insgesamt sind es 70 Illustrationen, die genau den 70 Jahren des Lebens von Hieronymus zwischen 1720 und 1790 entsprechen (wobei wir die letzten sieben Jahre nicht berücksichtigt haben, die im Schatten junger Mädchenblüte doch ein wenig, nun, verschattet waren).

Doch kehren wir nochmals etwas weiter in die Geschichte zurück. Aufregende Spuren und überraschende Dokumente zum Vater des Freiherrn von Münchhausen hat Otto Freiherr von Blomberg in Archiven gefunden, die fast wie erfunden scheinen. Auch Axel Wellner hat sich in einer «genealogischen Miniatur» einen Vater vorgenommen – nämlich Christian Theophilus Raspe, den Vater von Rudolf Erich Raspe. Dass dieser Vater als Beamter in einem Berghandelscomptoir gearbeitet hat, mag nicht ganz unschuldig daran gewesen sein, dass sein Filius zu einem bedeutenden Geologen wurde – ein schönes Beispiel für Newtons Gleichnis vom Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt. Mehr über Rudolf Erich Raspes Rolle als Vermittler von Wissen und Know-how in den Geowissenschaften zwischen Deutschland und England erfahren wir im Beitrag von Friedrich Waitz von Eschen.

Soweit so gut und schön und richtig. Wie aber, werden Sie fragen, halten wir es mit der Lüge? Weit ausgreifend setzt sich Thomas Fries diesem Thema auf die Spur und führt uns kundig in die Antike und zu einem grundsätzlichen Dilemma zurück. Könnte jedoch die Wahl zwischen Lukians freudiger Reise zum Mond und Platons düsterer Höhlenexistenz anders als mit einem klaren Bekenntnis zur literarischen Freiheit ausfallen? Etwas verdüstert müssen dagegen Jürg Kesselrings Ausführungen zum Münchhausen-Syndrom in der Medizin und Psychiatrie ausfallen, die zeigen, dass auch in der medizinischen Arbeit die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge problematisch ist.

Sehr geehrte Frau Erler, geehrter Herr Ministerpräsident, Herr Landesbischof, meine Damen und Herren, liebe Münchhausens, wir haben damit eine weite, doch hoffentlich kurzweilige Reise zurückgelegt, so wie ja auch Münchhausen mehrfach die Erde bis ins Innerste erkundet und das All bis zum Mond vermessen hat.

Nun bitten wir Sie zu einem kleinen Apéro, den Maître le Crac angerichtet hat und der, wie es sich gehört, aus Münchhausen´schen Zutaten hergestellt worden ist: Entenbrustscheibchen à la laisse; Hirschkeule mit frischem Lorbeer; gut abgehangener Eisbärenschinken; dazu einen kräftigen Tokajer. Eine vegane Variante kann auf Wunsch vor Ort zubereitet werden.

Erhältlich ist natürlich, sozusagen als Dessert, auch unser Buch.


Stefan Howald / Bernhard Wiebel (Hrsg.): «Das Phänomen Münchhausen. Neue Perspektiven». kassel university press. Kassel 2020. 264 Seiten, 70 Illustrationen. € 29.

Es ist ab sofort zu bestellen bei den Herausgebern: Bernhard Wiebel (bernhard@wiebel.ch) und Stefan Howald (sthowald@bluewin.ch).

Gerne werden dabei auch die soeben von der Bundesbank ausgegebenen Münchhausen-Gedenkmünzen à 20 Euro in Zahlung genommen, wobei Sie verstehen werden, dass wir angesichts der doch eher dubiosen Herkunft darauf einen Echtheits-Zuschlag erheben müssen.

Nun also: Guten Appetit und erquickliche Lektüre

Stefan Howald

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