Lena in London

Linksbüchneriade 19

Es war eine dieser Geschichten aus dem emotionalisierten Alltag, wie sie die englischen Red tops lieben: Unfall der Tochter eines Prominenten mitten in London, Ambulanz kommt nicht, beziehungsweise wird zu einem angeblich dringlicheren Fall umgeleitet, Tochter muss von der Mutter im Privatauto ins Spital gefahren werden und dort nochmals länglich warten. Einigermassen drastisch wurde beschrieben, wie die Tochter velofahrenderweise mit zwei andern Velofahrern zusammengestossen war und sich dabei die Lenkstange in ihren Oberschenkel gebohrt hatte. Skandal, schrie der prominente Vater, wozu zahlen wir denn Steuern, die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden, und überhaupt, das staatliche Gesundheitswesen sollte schon längst privatisiert sein. Die Verletzung stellte sich dann als nicht gar so blutig heraus, da es sich nicht um eine Fleischwunde, sondern nur um eine Prellung handelte; doch immerhin, der Unfall war ein Schock gewesen, und besorgt erwog die Zeitung, ob die Verunfallte wohl an der auf den gleichen Tag angesetzten Premiere ihres Theaterstücks auftreten könne. Als Lena. In einer Produktion von «Leonce und Lena». Des deutschen Dichters Georg Buchner.

Ja, für die Aufführung am folgenden Tag war noch ein Ticket erhältlich. Das Theater lag in einem jener Quartiere, in denen London in Vororte übergeht. Brockley, im weiteren Umkreis von Lewisham, im Südosten, das ich einmal aufgesucht hatte, da Eric Ambler dort einst die Schule besucht hatte, ist mit der Londoner Overground-Ringbahn erreichbar, also ein wenig jenseits des Rings der U-Bahn, aber noch nicht wirklich mit den Regionalzügen, die dann weiter ins Land hinaus fahren, in die englischen Shires. Die Haltestellen sind eher trostlos, über einem tief eingeschnittenen Trassee, mit Stacheldraht abgesperrt, wie im Niemandsland platziert und von einer kleinen Wagenburg aus Geschäften und Restaurants umgeben. Eine Hauptstrasse streift die Haltestelle, nach den Geschäften, allmählich von drei-, dann zweistöckigen Reihenhäusern gesäumt, gelegentlich eine Garage, linkerhand am wunderschönen Honor Oak Friedhof mit riesigen Eichen vorbei, bis man am nächsten kleinen Knotenpunkt mit Läden angelangt ist.

Das Jack Studio Theatre ist in einem Pub untergebracht, oder, besser, diesem angegliedert, ein Anbau mit fünfzig Plätzen. Vor der Aufführung kann man sich mit Pubfood stärken, das Publikum ist gemischt, offensichtlich ein paar Bekannte der SchauspielerInnen darunter, ältere Leute aus dem Quartier (der prominente Vater schien nicht dabei zu sein – er hatte übrigens sein Vermögen mit einer Billigschmuckladenkette gemacht und einst verkündet, was seine Kunden kauften, sei sowieso nur total crap, Schund, was den Umsatz kurzfristig hatte einbrechen lassen.) Das erfrischend handgestrickte Programm der Kuentos Theatergruppe, im Gegensatz zu den aufgeblähten, inhaltsleeren, überteuerten Broschüren in den grossen Theater gratis abgegeben, war durchaus kenntnisreich (selbstverständlich hatte Büchner seinen Umlaut gekriegt) und enthielt nur zwei nebensächliche Fehler.

Cornelia Duemler – London, Boston, Berlin – hat für ihre Adaption am Text Etliches gestrichen, Monologe verkürzt; aber es bleibt doch noch viel zurück, textgetreu – englisch textgetreu natürlich, und das Englische kommt den Büchnerschen Wortwitzen ja entgegen, selbst die philosophischen Anspielungen über Substanzen, Subjekte und Attribute wirken (obwohl vielleicht, arrogant gesagt, von diesem Publikum nicht ganz verstanden, was ja, arrogant gesagt, nichts am Vergnügen schmälert). Das Personal ist auf acht Figuren reduziert, von vier SchauspielerInnen gespielt, alle mit Doppelrollen, und dadurch entfällt notgedrungen die Szene mit dem Volk, dem beim Festakt der Bratenduft durchs Maul gezogen wird. Aber es bleibt, wie gesagt, eine durchaus schlüssige Fabel zurück. Leonce (Andrew Barton) ist ein rosiger Jüngling, hübsch künstlich und melancholisch. Dass der bei Büchner angeblich unterentwickelten Figur der Lena mehr eigenes Leben verliehen werden soll, wird allerdings nicht wirklich erkennbar, da Lena nicht so ganz die richtige Mischung zwischen romantischer Träumerei und Selbstbewusstsein findet. Aber wir wollen Sarah Ratner den Velounfall zugute halten.

Wie bei Shakespeare, den Büchner ja liebte, sind zuweilen die minderen Chargen unterhaltsamer: Valerio (Sam Adamson) umspielt die Welt mit lustigen und ironischen Kapriolen, und der Auftritt von Emma Waterford als Königin Petra ist ein satirisches Kabinettstückchen, was einen linksbüchnerianisch gesehen erfreut in den Londoner Regen treten liess.

 Stefan Howald

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