Hamlet und andere Kriege

Dem Boulevardblatt «Daily Mail» und dann dem seriösen «Guardian» war es eine Schlagzeile wert. Hamlet hatte offenbar ein F-Word ins Publikum geschleudert, was in England immer noch für Aufregung sorgen kann – die BBC versucht weiterhin, «fuck» mit einem Pieps zu übertönen. Natürlich war es nicht Hamlet gewesen, sondern Benedict Cumberbatch. Der gibt gegenwärtig fürs National Theatre in London den Hamlet und fordert nach jeder Aufführung das Publikum auf, angesichts der aktuellen Flüchtlingskatastrophe eine Hilfsorganisation zu unterstützen, und da fügte er offenbar am letzten Dienstag bei, dass die verdammten PolitikerInnen zu wenig täten.

Ansonsten hat sich die ursprüngliche Hysterie um Cumberbatchs Hamlet gelegt. Als das National Theatre eine Inszenierung mit ihm ab August ankündigte, wurde sie zu dem am schnellsten ausverkauften Theaterereignis in London. Cumberbatch, mittlerweile 39-jährig, hat nach kleineren Rollen erstmals vor zehn Jahren in einem Film über Stephan Hawking in der Titelrolle Aufsehen erregt, ist dann mit seiner Interpretation der Hauptfigur in der neuen Sherlock-Holmes-Verfilmung der BBC ab 2010 zum Star geworden und hat seinen Ruf seither mit zwei, drei Filmrollen, etwa als Alain Turing, bestätigt, und da der englische Theaterbetrieb alle zehn Jahre einen neuen, sensationellen Hamlet sucht, ist er jetzt für diese Rolle auserkoren worden. Nach den ersten Proben entfachte die «Sunday Times» eine Debatte darüber, ob man mit dem Originaltext herumwerkeln dürfe, etwa den berühmten Sein-oder-Nichtsein-Monolog an den Anfang des Stücks stellen könne. Die Diskussion ist so aufgeregt nur in England möglich, wo der Shakespeare-Text weitgehend als sakrosankt gilt, was künstlerisch Vor- und Nachteile hat.

Die Aura der Authentizität

Der Monolog ist dann an der originalen Stelle belassen worden, und seither lässt sich Benedict Cumberbatch als Hamlet in London in alltäglichen Aufführungen beschauen. Diejenigen, die bei der ursprünglichen Billett-Stampede leer ausgegangen sind, können ihn trotzdem quasi live erleben, da die Aufführungen jeweils direkt in verschiedene Kinos übertragen werden, eine Praxis, die das National Theatre als zusätzliche Einnahmequelle forciert, damit aber auch verdienstvollerweise Bildungsarbeit in Schulen betreibt.

Es ist eine eigene, eigentümliche Seherfahrung, weder Theater noch Film. Verfilmungen von Theater- und Opernaufführungen gibt es ja schon länger; aber die Live-Übertragung zehrt von der Aura der Authentizität des Originals, ohne diese ganz zu erreichen. Als einmal ein Tonkabel zu knistern beginnt, fragt man sich, was das jetzt im Theatersaal bedeute und ob die Aufführung abgebrochen würde, wenn die Leitung unterbrochen wäre; doch solche tranzendierenden Abschweifungen werden bald weggeschwemmt durch die Geschehnisse, die gestochen scharf und aus verschiedener Perspektive und mittels Grossaufnahmen näher ans Geschehen rücken.

Dieser «Hamlet» beginnt mit einem grandiosen Bühnenbild, düstere Steinquader, die den Schlosssaal von Elsinore ausmachen, und die mächtige Bühnenkonstruktion verwandelt sich zwischenhinein in schroffe Aussenlandschaften. Von vornherein steht das Stück mitten im Vorkriegszustand, der es stärker grundiert, als es die Konzentration auf die Hauptfigur zuweilen zu erkennen gibt. Norwegen und Dänemark streiten um die Macht, besser: die Thronfolger streiten um die Macht, da die alten Könige vor kurzem dahingerafft worden sind. Norwegens junger König Fortinbras droht Dänemark mit einer Invasion, die Dänemarks neuer König mit diplomatischen Mitteln abzuwehren sucht, während er gleichzeitig die Ordnung im eigenen Haus bewahren muss. Allmählich weht der Wind Schutt herein, Asche, Dreck, in dem sich die Mächtigen des Staates Dänemark, in dem Einiges faul ist, schliesslich gegenseitig abschlachten.

Cumberbatch hat eine ganz eigene Physiognomie und Gestalt. Den schönen Jüngling kann er nicht geben, zu lang gezogen, unproportioniert sind Gesicht und Körper. Sein Hamlet ist virtuos, widersteht der Versuchung, all diese Emotionen spektakulär zu übersteigern, noch in den Ausbrüchen bleibt er eher zerebral, und wenn er Verrücktheit vortäuscht, bevor die ihn übermannt, gibt er die burleske Spielzeugfigur (da erinnert er in der Zappeligkeit an Sherlock). Bahnbrechend kann man die Interpretation nicht gerade bezeichnen, was sie ja auch nicht sein muss.

Knirschende Gelenke

Darf man es laut sagen? «Hamlet» ist nicht eines der besten Stücke von Shakespeare. Die Monologe sind atemraubend (obwohl Rolf Vollmann in seiner vor 27 Jahren erschienenen, immer noch unvergleichlichen «Shakespeares Arche», diesem «Alphabet von Mord und Schönheit», gestreng meint, sie seien «ein bisschen geschwollen und eher in der Rhetorik stark als in der Argumentation»), und all die einprägsamen Formulierungen, die einem sofort in den Sinn fallen, wenn sie auf der Bühne fallen, füllen eine veritable Aphorismensammlung. Doch als Stück knirscht der «Hamlet» in einigen Gelenken. T. S. Eliot, angesichts seines späteren Bekenntnisses zum Katholizismus vielleicht nicht der verlässlichste Zeuge, hat von einem künstlerischen Misslingen gesprochen, weil Hamlets übersteigerte Emotion sich auf nichts bezögen, das für uns Zuschauende sichtbar sei. Hamlet denkt und spielt und wütet und verflucht und sticht zu, und man fragt sich, ob er nicht gelegentlich ein wenig übertreibt? Natürlich ist das ein spiessbürgerlicher Einwand, oder ein religiös geläuterter, aber tatsächlich sind die Hamlet umgebenden Figuren zu wenig ausgeführt. Polonius ist der Narr wie in den anderen Shakespeare-Stücken, aber ein witzloser. Ophelia wechselt eindimensional von der verliebten Unschuld in die verstörte Unschuld; nichts von der Komplexität und Schlagfertigkeit anderer Frauenfiguren, die ihren Witz immer überlegen an den Männern wetzen (obwohl sie doch zumeist in Ehen enden). Der Geist des Vaters, zwischen Himmel und Erde schwebend, mag dem einen oder anderen etwas bedeuten, oder auch unsichtbar bleiben, aber er verkündet bloss die alten feudalen Rachegedanken. Das Stück im Stück wird als politische Fabel platt instrumentalisiert, ohne die spielerische Tiefe eines Sommernachtstraums. Der Schluss, dass uns das Vergangene als Lehrstück über Blutvergiessen aus Zufallsurteilen, List und Gewalt und Plänen, die sich gegen den Urheber wenden, dienen soll, ist kaum mehr als eine Floskel.

Denn die machtpolitischen Verwicklungen werden aufs Individuum hinuntergebrochen (was ja aber gerade das Neue daran ist).

Aus den Fugen

Ja, Hamlet ist das Neue. Eines der ersten bürgerlichen Individuen auf der feudalen Bühne. Das stimmt wohl, aber die Aussage wird zuweilen zur self-fulfilling prophecy unserer eigenen Interpretation. So ganz kann sich auch Hamlet nicht der vorbestimmten sozialen Rolle entziehen (wie sollte er es auch können?). Hamlet ist noch immer Königssohn, nicht nur in den alten Machstrukturen, sondern auch in den alten Denkformen gefangen. Der Geist des Vaters fordert Rache, und die Empörung des jungen Hamlet gegen den usurpatorischen Onkel ist auch durch dieses ständische Motiv geprägt, dass ihm gestohlen wurde, was ihm qua seiner Geburt zustehen sollte. Norwegens Fortinbras, der am Schluss Dänemark erben wird, meint über der Leiche von Hamlet, dieser wäre wohl ein guter König geworden, und Hamlet hätte diese Meinung wohl geteilt. Zu Lebzeiten zerren die alten Forderungen an ihm, und das kann er sich nicht immer eingestehen, ja, bei all seiner Gedankenschwere ist er sich seiner Motive erstaunlich wenig bewusst. So nimmt er die unterschiedlichsten Rollen ein. Der intellektuelle Zauderer, angekränkelt von des Gedankens Blässe. Der pubertäre Aufbegehrer, immerhin dreissig Jahre alt. Der inzestuös Verstrickte, zumindest im Hass auf den Onkel, der sich an die Stelle des Vaters setzt, und im Ekel auf die Mutter, die das zulässt.

Die Welt ist aus den Fugen, das spürt er, zwei Verhaltens- und Denkformen, die sich abzulösen beginnen, stossen tektonisch aufeinander. Da steht er selbst mitten drin, beobachtendes Subjekt und getriebenes Objekt. Die halb geahnte Erkenntnis lähmt ihn nicht nur, sondern macht ihn auch gefühllos. Polonius ersticht er wie eine Ratte, und das Schicksal von Ophelia scheint ihm gleichgültig, eingesponnen in Rache und Ekel. Darf er das als Figur nicht sein? Doch. Gerade dadurch wird er tiefgründig ambivalent, von seinem Sockel geholt. Dass dies auf Kosten dramaturgischer Schwächen erkauft werden kann, macht die Grösse der Aufgabe und die Kühnheit des Neuansatzes von Shakespeare deutlich.

Im Boot

Nach dem Schlussapplaus tritt Benedict Cumberbatch aus dem Reigen der anderen SchauspielerInnen hervor und hält eine kurze, knappe Rede darüber, dass nicht nur im «Hamlet» auf dem Theater, sondern auch draussen Krieg herrsche, etwa in Syrien, der Flüchtlinge zu uns treibe; er zitiert ein Gedicht der somalisch-britischen Dichterin Warsan Shire: «Niemand setzt Kinder in ein Boot, ausser das Wasser ist sicherer als das Land», und fordert zu Spenden für die Hilfsorganisation Save the Children auf. Die Intervention ist ein Glanzstück, ohne Pathos, nüchtern, genau, bewegend. So erlaubt die Kunst den Blick auf die Realität, ohne ihre eigene Realität zu verleugnen.

Stefan Howald

 

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