Goldkarpfen und Meerbarben

 Linksbüchneriade 24

barbe-3-original-rechtsAm 5. November erhielt Büchner von der Universität Zürich die Genehmigung zu Privatvorlesungen. Das Semester hatte schon begonnen, also galt es, sich zu sputen. Nach der Probevorlesung hatte ihm Professor Johann Lukas Schönlein – auch er ein politischer Flüchtling aus deutschen Landen, weitaus früher gekommen – den Gebrauch kostbarer Präparate versprochen, und das hatte Büchner gefreut. Aber er wollte doch unabhängig bleiben, also beschloss er, selbst zu präparieren. Barben, damit würde er beginnen, damit kannte er sich aus und konnte auf die Studien für die Doktorarbeit in Strassburg zurückgreifen. Zudem würden Barben verfügbar sein, wie es das Fischerlied vermeldete: «Die Barbe ist zu warten schuldig, bis zum September ganz geduldig; Sie dankt es Dir ganz stumm und still, denn sie bleibt schmackhaft bis April.»

So stieg er am nächsten Tag zum Fischmarkt hinunter, der nur fünf Minuten von der Wohnung entfernt lag, von der Steingasse rechts in die Münstergasse, nach ein paar Schritten links in die Marktgasse hinunter zum Rüdenplatz. Unter den Bögen war schon ein lebhaftes Feilschen im Gang. Die besten Plätze belegten die Zürichseefischer, und in ihren Körben fanden sich überwiegend dicke, fette Karpfen. Auch ein paar Limmatfischer boten ihre Ware an, Hechte, Aale, wenige Egli. Barben? Männiglich zuckte die Schultern.

Schliesslich fand er einen Stand aus dem Aargau, sogar einen aus dem Luzernischen sah er, mit Barben aus der Reuss sowie ein paar armseligen Egli, aber an beiden Orten wirkten die Barben klein und fürs Präparieren wenig geeignet. Etwas versteckt in einer Ecke hatte sich ein weiterer Stand platziert, aus Schaffhausen, vernahm er auf Nachfrage, noch so ein Kanton, pardon Republik. Ein bisschen ähnlich wie die deutsche Kleinfürsterei, dieser Kantönligeist, wie ihn Wilhelm Schulz kürzlich lachend bezeichnet hatte, und all diese Grenzen würde Leon – oder sollte er ihn doch lieber Leonce nennen? – im Flug überschreiten. Ähnlich und doch kein Vergleich, dort dieser Schmutz, dieses Elend, eine allumfassende Bedrückung, hier zumindest solide Behäbigkeit, geordnet, sauber – na, er würde das gegenüber den besorgten Eltern noch ein wenig ins Positive übersteigern.

Da sah er Barben, aus dem Rhein, die ihm passend schienen. Der Stand wurde von einem älteren und einem jüngeren Mann betrieben, Vater und Sohn, schätzte Büchner, und er wurde schnell handelseinig; die Preise lagen, schien ihm, unter denjenigen der Zürcher.

Die Arbeit mit Seziermesser und Lupe war knifflig, dazu bei diesem flackernden Kerzenlicht, Büchner war ein wenig aus der Übung gekommen und dann, seine Kurzsichtigkeit! Sorgfältig legte er den Seitennerv des Fischrumpfs bis in den Schwanz hinein bloss, dazu die auf der ganzen Seite vom Hauptnerv abgehenden Haut- oder Seitenäste.

dissertation2Aber er wollte mehr, wollte versuchen, was ihm in Strassburg nur unvollkommen gelungen war, eine Faser des intestinalen Vagus-Astes bis in den Herzvorhof hinein zu verfolgen. Also suchte er in der kommenden Woche wieder den Schaffhauser Stand in der Ecke des Bogengangs gegenüber dem Rathaus auf. Diesmal bediente ihn der Sohn. Wo der Vater sei, fragte Büchner etwas verlegen; er gab seinen Dialekt nicht gerne preis. Der habe sich verletzt, beim Netzfangen, meinte der Sohn. Beide zögerten. Dann fragte der junge Fischer, ob der Fisch geschmeckt habe. Büchner antwortete schnell, nein, nein, den habe er nicht gegessen, sondern seziert. Beschämt hielt er inne. Der andere schaute ihn gleichmütig an. Er war wohl ein, zwei Jahre älter als er selbst, dachte Büchner. Er fühlte sich genötigt, sich zu rechtfertigen: Einen Teil des Fisches habe er schon gegessen, aber er bereite eine Vorlesung vor, und die Barbe sei ausgesprochen interessant und das Exemplar ausgesprochen schön gewesen … Verlegen brach er ab. Ob er an der neuen Universität lehre, fragte der Fischer, er habe davon gehört. Ja, er sei neu hier, wunderschön sei es. Dann verabschiedete er sich rasch.

Als Büchner am folgenden Mittwoch zur selben Zeit an den Stand trat, war für ihn ein schönes Exemplar auf die Seite gelegt worden. Der Vater war wieder da und fragte ihn, etwas herausfordernd, wie es Büchner schien, was er denn in den Fischen suche. Wie die Sinne funktionierten und wie sie mit den Schädelnerven zusammenhingen, antwortete Büchner kurz angebunden. Das liege doch auf der Hand, meinte der Fischer. Mit denen da, und er strich der Barbe leicht über einen Bartfaden, taste sie den Boden ab, und wenn sie etwas Essbares spüre, schnappe sie es sich mit dem Maul. Das sei ja breit genug. Dann seien, fragte Büchner etwas schnippisch, die Bartfäden wohl entstanden, um dem Fisch bei der Futtersuche zu helfen? Warum sie dann andere Fische nicht auch hätten? Die seien eben anders, darüber lohne es sich nicht, viel Gedanken zu verlieren, erwiderte der Fischer trocken, und Büchner glaubte schon, er schiebe irgendeinen frommen Spruch nach, über die Vielfalt von Gottes Natur und dessen unergründliche Wege. Aber er glaube nicht, fuhr der Fischer fort, als ob er Büchners Gedanken erraten hatte, dass Gott die Fische geschaffen habe, damit der Mensch sie fange. Die kämen uns unglücklicherweise in die Quere und dächten sich nicht viel dabei.

Büchner war von diesem nüchternen Pragmatismus beeindruckt. Er hielt sich etwas auf seine empirischen Studien zugute, aber Empirie konnte auch, wie er wusste, teleologisch werden. Wenn man funktional bestimmte, dass die Nerven bei Fischen bestimmte Funktionen erfüllten und dies dann als Vorstufe für andere Organe bei höheren Tieren betrachtete: Glaubte man da nicht auch an eine Art Vorsehung? Dennoch, ohne Experimente ging es nicht, Büchner hatte ja selbst welche durchgeführt: die Iris lebender Fische mit einer Linse hell beleuchtet und dabei die Veränderung der Pupille beobachtet. Na und? Das war ja wohl zu erwarten gewesen. Was hiess das schon? Also war er weiter gegangen. Er hatte die Seitennerven mechanisch gereizt, bei Fischen mit intakten und solchen mit durchgeschnittenen Nerven, um die Stärke von Rumpf- und Schwanzbewegungen zu vergleichen, ohne Resultat. Ein bisschen grauste Georg vor sich selbst. Es schien doch mehr von seinem Vater in ihm zu stecken, als ihm lieb war. Der hatte ohne irgendwelche Regung den versuchten Selbstmord einer Dienstmagd mit Stecknadeln untersucht und darüber einen präzisen, aufschlussreichen, unmenschlichen Aufsatz geschrieben.

Am nächsten Mittwoch war der ältere Fischer zu einer Anhörung vor der Schaffhauser Zunft zun Fischern geladen worden. Fritz – so hiess der Sohn, Fritz Peyer, hatte er sich beim zweiten Treffen vorgestellt – sprach zuerst zögernd, dann schneller und zunehmend zornig. Erst im Frühjahr hatte der Kanton die Fischrechte zuerteilt in der Fischenz. Die Peyers hatten mehrmals vor dem Rat vorsprechen müssen und schliesslich den Zuschlag erhalten, da sie dank geschickterer Fangmethoden mehr Ertrag versprachen. Das war missgünstig beobachtet worden. Die Fischerzunft, obwohl faktisch entmachtet, wehrte sich gegen alle Neuankömmlinge. Und dann, meinte Fritz mit sichtlichem Groll, war ihnen das selbe in Zürich passiert: Da seien die Zünfte ja faktisch abgeschafft, aber ihnen, den Auswärtigen gegenüber, würden sie immer noch wie die Herren auftreten und etwa den Zugang zu den Gerätschaften im benachbarten Zunfthaus zur Haue verwehren, und beim Reinigen ihrer Werkzeuge hier am Platz im Samsonbrunnen mussten sie hinten anstehen.

Büchner war unsicher, ob er sich auf solche politischen Diskussionen einlassen sollte, und wog unschlüssig eine besonders schöne Barbe in der Hand. Schon die Römer im benachbarten Augst hätten Barben gegessen, meinte Fritz in die entstandene Stille hinein, und als ihn Büchner erstaunt anschaute, fügte er hastig hinzu, das habe er in einem Kalender gelesen, dem Republikaner, wie er nachschob, es seien allerdings importierte Meerbarben gewesen. Büchner machte sich in Gedanken eine Notiz, im Danton die Goldkarpfen durch Meerbarben zu ersetzen – das würde das lokale, also realistische Kolorit verstärken.

Nach Neujahr stellte Büchner das Sezieren allmählich ein. Er überlegte, ob er Fritz zu einer seiner Vorlesungen einladen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er besuchte den Stand noch ein, zwei Mal, kaufte jeweils – obwohl selbst diese bescheidene Ausgabe seine finanziellen Möglichkeiten strapazierte – eine kleine Schleie, verweilte zu einem kurzen Gespräch. Im Februar war er drei Wochen ausgeblieben, also stieg Fritz am Mittwoch, den 22. Februar gegen Mittag, nachdem er mit seinem Vater den Stand verräumt hatte, zur Steingasse hoch. Die Türe an der Nummer 12 stand offen. Zögernd trat er ein und erklomm die schiefe, knarrende Treppe zum ersten Stock, klopfte dort an eine Tür. Eine Frau in schwarzem Kleid machte ihm energisch auf, Georg, nein, ob er es nicht wisse, sagte sie mit hochdeutschem Akzent, und ihr Gesicht verschattete sich. Der sei am Sonntag verstorben, welch eine Tragödie. Was er denn von ihm gewollt habe. Fritz schrak zurück. Nun, murmelte er, er habe ihm zuweilen Fische gebracht. Er brach ab und wollte sich verabschieden. Dann müsse er wohl Fritz Peyer sein, meinte die Frau, der Fischer aus Schaffhausen, er solle sich kurz gedulden, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie ins Zimmer zurück und kam mit einem Blatt Papier zurück: Georg habe ihr aufgetragen, ihm dies auszuhändigen.

Fritz rollte das Papier zusammen und verabschiedete sich. Während der Rückfahrt auf dem Pferdewagen, den zu lenken er den Vater gebeten hatte, versuchte er das Papier zu entziffern. Es war eine krakelige Schrift, sie wollte, wie es Fritz schien, nicht so recht zu Georg passen. Es handelte sich offenbar um einen Auszug aus einem Stück, verschiedene Figuren sprachen, und es ging ums Essen, meinte Fritz zuerst, erkannte dann aber, dass wohl anderes gemeint war: «Sind wir wie Ferkel, die man für fürstliche Tafeln mit Ruten totpeitscht, damit ihr Fleisch schmackhafter werde?» Dann kam eine ähnlich überspannte Passage, und noch eine, und in ihr hatte jemand – unzweifelhaft Georg – ein Wort unterstrichen: «Ist denn der Äther», las Fritz, «mit seinen Goldaugen eine Schüssel mit Meerbarben, die am Tisch der seligen Götter steht und die seligen Götter lachen ewig und die Fische sterben ewig und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes?» Fritz wollte das prächtig erscheinen, aber auch ein wenig merkwürdig; den Todeskampf der Fische, den kannte er, auch das Farbenspiel dabei, aber daran erfreut hatte er sich noch nie. Doch dann sprach eine weitere Figur, die mit Danton bezeichnet war – Danton, ja, über den hatte er im Republikaner gelesen: «Die Welt ist das Chaos. Das Nichts ist der zu gebärende Weltgott», und Fritz erinnerte sich daran, wie Georg zuweilen solche ungebärdigen Sachen gesagt, dabei aber durchaus melancholisch gelächelt hatte; überhaupt, Georg war ein freundlicher Mensch gewesen, und das Nichts, das stand für Fritz fest, war zweifellos nicht sein Weltgott gewesen.

Illustrationen: Ausschnitt aus einer Bildtafel von Melchior Füssli von 1709 im Rathaus Zürich; Zeichnung aus Georg Büchners Doktorarbeit Mémoire sur le système nerveux du Barbeau, Strasbourg 1836.

Text aus dem Brevier zum Zweiten Zürcher Büchner-Tag, Dielsdorf, Oktober 2016.

 

 

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