Als die Literatur noch politisch war

Die grosse, zweitausend Seiten umfassende Romantrilogie «Thuja» von Günter Herburger habe ich Anfang 1992 während mehrerer langer Nächte in London gelesen und dabei beiläufig die Berichterstattung im BBC World Service über die «ashes» live von down under verfolgt, dem ersten von fünf fünftägigen Cricketmatches zwischen Australien und England.

Das leicht bizarre Setting passte zum Roman, der eine politische Prämisse mit grotesken Situationen verbindet. Günter Herburger, am 3. Mai im Alter von 86 Jahren verstorben, wagte sich, beinahe parallel zu «Die Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss, an eine grundsätzliche Bestandesaufnahme linken Hoffens und Scheiterns.

In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre hatte er einigen Erfolg mit Hörspielen und Drehbüchern, etwa für Peter Lilienthal, dann vor allem mit seinen «Birne»-Büchern, «Abenteuergeschichten für Kinder und Erwachsene». Der erste Teil von «Thuja», «Flug ins Herz», bedeutete 1977 einen scharf erhöhten Einsatz. Nachdem 1991 der letzte Band der Trilogie erschienen war, würdigte ich den ganzen Roman damals im «Tages-Anzeiger» ausführlich. «Seine Fabel ist von grotesker Schärfe. Eine kleine Gruppe von Arbeiterinnen und Arbeitern, einigen Angestellten, die sich unter geheimnisumwitterten Umständen zusammenfindet, verschwört sich zu einem soziobiologischen Experiment. Ein Milliardär soll entführt, zum Beischlaf mit einer Arbeiterin gezwungen werden; ein Arbeiter mit einer Millionärin schlafen. Von den so erzeugten Kindern soll dann eines in Arbeit und Beschränkung aufwachsen, das andere in Musse und Reichtum, um dadurch zu zeigen, wie Intelligenz und Gewandtheit soziales Resultat sind: also die Vererbungstheorie widerlegen, die Milieutheorie beweisen. Man kann diese Fabel nicht ernst nehmen; und muss es doch tun in der Konsequenz, mit dem sie als Anlass für weitgespannte Reflexionen und ausgreifende Geschehnisse dient.» (Tages-Anzeiger vom 12.2.1992)

Herburger nahm im ersten in zwei Bänden erschienenen Teil «Flug ins Herz» die nach 1968 geführten Polit-Diskussionen auf, bis hin zum RAF-Terrorismus, und dies in Form eines Bildungsromans, erzählt vom Arbeitslosen Johann Jakob Weberbeck. «Herburgers Geheimgesellschaft liess ironisch sowohl die literarischen Vorbilder aus der Spätaufklärung durchscheinen als auch die zeitgenössischen Politklüngel; und doch verraten die eigenwilligen Figuren der Gruppe die Rebellion für ein anderes Leben nicht. Denn zentral geht es dem Roman um Wissensaneignung durch diejenigen, die bisher zu kurz gekommen sind in unserer nach wie vor geteilten Gesellschaft». Der zweite Band, «Die Augen der Kämpfer», in zwei Teilen 1980 und 1983 publiziert, verarbeitete dann das Scheitern verschiedener Revolten, beschrieb die verheerenden Folgen der Isolationshaft und den Versuch eines Neuanfangs in der DDR, und endete auf einer entsprechend düsteren Note.

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Der Abschlussband «Thuja» erschien, lange hinausgezögert, 1991. «Die Verstörung geht tief. Der Roman, einst so hochfliegend nach einem besseren Leben greifend, beginnt noch einmal ganz unten. Die beiden Kinder des sozialtechnologischen Experiments tragen schwer an Beschädigungen. David ist taub, Angela motorisch gestört. Zusammen mit einer fehlfarbenen Krähe wohnen sie in einem seltsamen Turm im tiefsten Allgäu. David arbeitet in einer Waffenfabrik, Angela geht in eine Werkstätte für behinderte Kinder. Eine Lehrerin, ein arbeitsloser Architekt nehmen Angela und David auf, ziehen mit ihnen ins sagenhafte Cimbrien, wieder zurück in ein sozial sich neu mischendes Allgäu. Das letzte Buch verkriecht sich in den Alltag im hintersten Winkel als letzte Hoffnung. Und hebt ihn zugleich allgewaltig auf. Umschwärmt werden die Figuren von den Riesenheeren aller Toten. Sie erinnern an die Aussätzigenjagden des Mittelalters, die Ausmerzung ‹unwerten Lebens› durch die Nazis; ja, sie zwingen alle Zeiten, den Kreislauf der Natur, von Tod und Leben zusammen.»

Das ging mir damals entschieden zu weit. «‹Flug ins Herz› rechne ich zu den stärksten Romanen der letzten zwei Jahrzehnte. Mit den Fortsetzungen aber häufen sich die Zumutungen. Bei etlichen möchte ich Herburger nicht mehr folgen.» Denn was wollte Herburger da zeigen? «Eine neue Mystik, mit den Mitteln der heutigen Wissenschaft? Die Sphären klaffen vor allem im letzten Band riesig auseinander, Provinzverhältnisse, Behinderte, mathematische Logik und Evolutionstheorien werden ineinandergepresst. Das erzeugt mal Komik, mal Beklemmung, Unverständnis, auch Langeweile.» Zugleich deutete ich diesen Roman als Zeichen der Zeit, über die Schwierigkeiten, überhaupt noch eine Utopie zu formulieren. «Herburger versucht […], die Utopie wieder politisch aufzuladen. Es ist wohl ein gescheiterter Versuch. Das wirr harmonische Völkergemisch, obzwar im ganzen Roman vielstimmig vorbereitet, wirkt dennoch aufgesetzt. Wie stark, wie schwach muss Utopie heute sein, um anders zu wirken?»

In einem Brief hat mir Herburger damals geschrieben, er schätze es, dass ich mich als einer der wenigen Rezensenten mit dem Ganzen des Romans auseinandergesetzt habe; dass ich mit dem letzten Teil nicht mehr so viel anfangen könne, stimme ihn nicht traurig.

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Foto: Volker Derlath/SZ Photo

Neben dem Mammutprojekt «Thuja» suchte er auch sonst Parforceleistungen, begann spät als Marathonläufer und berichtete mehrfach über «Lauf und Wahn». Doch dem grossen Roman antwortete erdrückendes Schweigen. Wie seine Figuren es heroisch behauptet hatten, war er selbst ins Abseits geraten. Seit 1994 publizierte er im A1-Verlag, einem unabhängigen Autorenverlag, der sich vor allem mit internationaler Literatur profilierte. Bis zum Schluss blieb er Aussenseiter. Sein Tod erinnert an ein Romanprojekt und an eine Zeit, als die Literatur politisch noch Einiges wagte.

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