Weltgeschichte und Literatur

Inmitten all der drängenden Anforderungen, das unvergleichliche Gretler’sche Panoptikum im Zürcher Kanzleizentrum bis Ende Mai zu räumen, hatte mir Sarah G. erneut ein paar Trouvaillen für den bücherraum f bereitgelegt, etwa zwanzig Jahrgänge der Monatszeitschrift «der neue bund» ab 1949, der Zeitschrift des religiös-sozialistischen Escherbunds, oder zwei kleine Broschüren von und über den Sozialisten und Kriegsdienstverweigerer Charles Naine; auch Material zu 68 in der Schweiz. Dazu ein Sichtmäppchen mit einem Exemplar des «Illustrierten Blatts» aus Deutschland, wobei ihr im Moment gerade nicht mehr einfallen wollte, weshalb? Aber mich sprang auf dem vorerst noch gefalteten Titelblatt sogleich das Bild eines Mannes mit einem ebenso offenen wie melancholischen Blick an, den ich zu kennen schien, nein, den ich kannte: Es war der deutsche Industrielle, Aussenminister und Publizist Walter Rathenau und die Zeitung eine Sonderausgabe zu dessen Ermordung am 24. Juni 1922.

Rathenau ist mir mehr noch als Figur der Zeitgeschichte bekannt dadurch, dass er einen prominenten Auftritt in der Literatur hat: In Robert Musils Epochenwerk «Der Mann ohne Eigenschaften» taucht er nämlich kaum verklausuliert als Dr. Paul Arnheim auf. Der ab 1900 ungemein bekannte Rathenau hatte nicht nur als Aufsichtsratsvorsitzender die von seinem Vater Emil Rathenau gegründete Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft AEG ebenso wie weitere Industrieunternehmen geführt, dann die deutsche Kriegswirtschaft koordiniert und nach 1918 die deutschen Nachkriegsreparationen verhandelt, sondern auch äusserst erfolgreiche Bücher wie «Von kommenden Dingen», «Zur Mechanik des Geistes» oder «Zur Kritik der Zeit» geschrieben. Letzteres hatte Musil dazu geführt, ihn spöttisch, ja schon beinahe bösartig als aufgeblasenes Beispiel eines «Grossintellektuellen» zu persiflieren, mit welchem Begriff und welcher Figur Musil etwas kulturpessimistisch den Verfall wahrer kultureller Grösse beklagte. Wiewohl er mit seiner Kritik an Rathenaus eher dubiosen Verbindung von Geld und Geist durchaus Recht hatte und in minutiöser Textexegese mit einem Verfahren, das ich in meiner Dissertation als «ästhetische Ideologiekritik» charakterisiert habe, Rathenau wie anderen damals bekannten philosophischen Autoren ihre Widersprüchlichkeiten nachwies, klang auch ein bisschen Eifersucht auf den Erfolg solcher Grossschriftsteller mit. Zudem gab es für Musils Abneigung einen realgeschichtlichen Anlass, da Rathenau einst Musil bei einem kulturellen Empfang den Arm um die Schulter gelegt hatte, was dieser als anstössig und übergriffig empfunden hatte, und diese individualpsychologische Ursprungsszene habe ich seinerseits mal in einem Aufsatz sozialpsychologisch unter dem Stichwort «Berührungsfurcht» als Sozialpathologie des freischwebenden Intellektuellen thematisiert.

Item, im «Illustrierten Blatt» konnte es nicht, anachronistisch, um die spätere künstlerische Anverwandlung Rathenaus gehen, sondern hier wurde der Meuchelmord eines Vertreters der Weimarer Republik beklagt, in dem, wie sich zeigen sollte, Späteres, noch Schrecklicheres vorweggenommen war. Der Schuss, der Rathenau niedergestreckt hatte, sei «ein Volltreffer für das ganze deutsche Volk« gewesen, hiess es, eher unglücklich formuliert, im Kommentar des «Illustrierten Blatts», der aber alsbald sich zur aufrechten demokratischen Gesinnung bekannte und den «einmütigen Protest» beim Staatsbegräbnis beschwor. Tatsächlich hatten sich 200’000 Menschen in Berlin versammelt, aber die Hoffnung auf das dadurch geschaffene «Gefühl der Einigkeit und Zusammengehörigkeit» gegen den bereits auch antisemitisch grundierten Terror von rechts hielt nicht lange an.

Neben den dreieinhalb Seiten zu Rathenau bzw. zum politischen Attentat generell enthält diese Ausgabe des 1913 als Wochenzeitschrift gestarteten «Illustrierte Blatts» auf ihren insgesamt zwölf Seiten allerdings nicht mehr viel Substanzielles. Ein Fortsetzungsroman verspricht allerlei populärwissenschaftliche Erörterungen. Eine grässliche, aus dem Englischen übersetzte Parabel «Der Tod und die Orange» lehnt sich vage an das Urteil des trojanischen Paris an und lässt eine Frau «in einem fremden, südlichen Land» mit bösem Gelächter eine Orange unter den Wirtshaustisch rollen, worauf sich zwei Männer zerstreiten und der Tod vom Nachbartisch herbeitritt. Eine Seite ist «deutschen Kampfspielen» gewidmet, worunter man sich eine Art deutscher Olympiade vorstellen muss. Illustriert ist das mit Originalzeichnungen, und im Text wird trotz des martialischen Titels der Hoffnung Ausdruck verliehen, Sport verbinde das deutsche Volk gerade auch im Angesicht der Ermordung Rathenaus. Abgeschlossen wird die Zeitschrift hinten mit einer zweigeteilten Bildseite: Unter dem Titel «Sport und Spiel» findet sich eine Fotografie des ebenso beeindruckend wie paradoxal benannten deutschen Hürdenlaufmeisters «Dr. Ritter von Halt»; als «Bilder vom Tage» werden unter andern der «Einzug deutscher Truppen in Oberschlesien» neben einem Strandanzug, einem «fraisen Seidentrikot mit grau-schwarzer Seidentresse», präsentiert.

Bei den durchaus zahlreichen Inseraten fällt auf, wie häufig für allerlei unterschiedlichste Medikamente geworben wird. Was sich auch als Zeichen für die damaligen dräuenden Zeiten lesen lässt.

sh

Dieser Beitrag wurde unter Kulturkritik abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.