Bemerkenswert, mit welch unverhohlener Freude die meisten Zeitungen diese Faustjustiz begrüssten. Wer im Sommer 1957 von einer Reise aus Moskau in die Schweiz zurückkehrte, hatte ein paar guteidgenössische Prügel verdient. Dass auch gleich noch die Koffer der Reisenden geplündert und in Brand gesteckt wurden: lässliche Überreaktion. Die NZZ hatte es schon vorgemacht, 1956, als sie die Adresse des Marxisten Konrad Farner publizierte und scheinheilig fragte, ob wohl die Schweizer Bevölkerung ihren Unmut über den Moskausöldling ausdrücken werde? Sie war es 1957 wiederum, die die ganze Kampagne gegen die Schweizer TeilnehmerInnen an den Weltjugendfestspielen in Moskau öffentlich orchestrierte. Andere Zeitungen wie das «Basler Volksblatt» oder die «Luzerner Neueste Nachrichten» folgten getreulich. Der «Freie Schweizer» ging noch ein bisschen weiter, nannte die Reisenden «Parasiten» und forderte die Entlassung allfällig beteiligter Lehrpersonen.
Rafael Lutz präsentierte diese erschreckenden O-Töne bei der Vernissage seines Buchs «Heisse Fäuste im Kalten Krieg» im bücherraum f. Er hat ausführlich über jenen Ausbruch gutbürgerlicher Gewalt recherchiert, mit dem die RückkehrerInnen aus Moskau in Zürich empfangen wurden, hat mit den wenigen noch verbliebenen ZeitzeugInnen gesprochen, zeitgenössische öffentliche und private Berichte sowie einschlägige Polizeidossiers ausgewertet und darüber ein gut lesbares Buch geschrieben.
Rund 350 junge Leute aus der Schweiz waren Ende Juli an die Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Moskau gereist. Obwohl von der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) initiiert, waren wohl nicht einmal hundert der Reisenden PdA-Mitglieder. Doch das reichte im Zeichen des Kalten Kriegs schon, um das eidgenössische Abendland in Gefahr zu sehen, zumindest in der Deutschschweiz. In der welschen Schweiz nahm man die Sache ein bisschen gelassener; nicht nur stammte die Mehrheit der TeilnehmerInnen aus Genf und aus der Waadt, sondern dort schürten die Medien so wenig öffentliche Empörung, dass die NZZ gleich auch noch indigniert über den mangelnden antikommunistischen Eifer der Welschen herziehen musste.
Am 11. August verkündete die laufende Leuchtschrift am Zürcher Bahnhofplatz die genaue Uhrzeit, zu der die «Moskauwallfahrer» mit dem Arlberg-Express im Bahnhof Zürich Enge eintreffen würden. Rund 300 Leute versammelten sich, mit Plakaten und schlagtüchtigen Schirmen. Die Polizei war auch vor Ort; doch sie griff kaum ein, als einige der dreissig Zürcher Reisenden beim Aussteigen unsanft gepackt wurden, bevor sie aus dem Bahnhof Enge flüchten konnten oder sich in den Zug zurückzogen und sich verbarrikadierten, um später in einem ungefährlicheren Bahnhof auszusteigen. Der NZZ-Redaktor und nachmalige Stadt- und Nationalrat Ernst Bieri hatte bei der Abreise Ende Juli einige Sprachregelungen vorgegeben und von PdA-Schutzstaffeln schwadroniert, die die Pressefotografen an der Ausübung ihrer hehren Pflicht gehindert hätten – ironischerweise hätte es solchen privaten Schutzes durchaus gebraucht, da die Polizei ihren gesetzlichen Auftrag nicht erfüllte. In der Halle gerieten Gepäckstücke unter die Räder des Zugs, und jener Gepäckwagen, auf dem die Polizei die zurückgebliebenen Koffer der Geflüchteten eingesammelt hatte, war, bevor er auf dem Tessinerplatz eintraf, vollständig geplündert worden. Danach wollten die Biedermänner von der Falkenstrasse wieder mal keine Brandstifter gewesen sein: Für ein paar übereifrige Jugendliche sei man nicht verantwortlich. Aber die NZZ störte sich keineswegs daran, dass für einmal in der Schweiz Ruhe und Ordnung nicht gewährleistet worden waren.
Als Kollateralschaden kriegte mindestens ein US-amerikanischer Tourist guteidgenössische Schläge ab; doch da erkannte der Tourismusverein schnell, dass man ihn mit allerlei Geschenken begütigen musste, so dass der Vorfall, nach dem ursprünglichen «Missverständnis», geradezu als Musterbeispiel für die Gastfreundschaft der Schweiz herumgeboten werden konnte.
Bei der lebhaften Buchvernissage im bücherraum f, von Limmat Verlag und Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung mit organisiert, waren auch zwei der damaligen Moskaureisenden anwesend. Edwin Bhend war am 11. August 1957, da Gerüchte über einen womöglich unfreundlichen Empfang den Zug erreicht hatten, schon im Bahnhof Rüschlikon ausgestiegen, hatte sich nachher, aus jugendlicher Neugier, zum Bahnhof Enge begeben, wo er aber vom Krawall nicht mehr viel mitbekam. Dafür erhielt er wenig später die Kündigung von der Schreinerei, bei der er gearbeitet hatte. Auch der damals fünfzehnjährige André Pinkus war in Moskau gewesen, reiste jedoch mit der zweiten Gruppe am 15. August zurück. Angesichts der Erfahrungen der ersten Gruppe stiegen die meisten ZürcherInnen gleich nach dem Grenzübertritt in Buchs aus, oder spätestens in Oberrieden, nachdem man, durchaus dem subversiven Image entsprechend, die Notbremse gezogen hatte. Im Bahnhof Enge wurde der Zug diesmal von beinahe tausend DemonstrantInnen erwartet. Also harrten die im Zug verbliebenen Welschen in den drei hintersten Wagen aus, um dann unbehelligt weiterzufahren. Die Polizei hatte trotz einer Hundertschaft die Halle nicht räumen können; erst nach der Weiterfahrt des Zugs zerstreute sich die Menge enttäuscht.
Eine Woche später erinnerte sich die LNN an ihre Denunziationsfunktion und veröffentlichte die Namen der vier Luzerner TeilnehmerInnen der Moskauer Reise. Alle verloren sie daraufhin ihre Stelle. Das ist eine der beunruhigendsten Tatsachen dieser Affäre: die Zusammenarbeit von staatlichen Behörden, privaten Organisationen und der Wirtschaft. Schon bei der Ausreise waren alle TeilnehmerInnen registriert worden, die Polizeiberichte wurden entschieden diffamierend verfasst, und die Angaben fanden dann den Weg zu rechtsbürgerlichen Organisationen, die sie wiederum an Arbeitgeber weiterreichten.
Natürlich, die Weltjugendfestspiele dienten dem sowjetischen Regime jeweils als Propagandashow, insbesondere nach der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn 1956, und einige Erinnerungen von TeilnehmerInnen sind ein bisschen rosarot gefärbt. Aber in der Schweiz wurde schon der blosse Besuch in Moskau zum Staatsverrat erklärt, während umgekehrt Wirtschaftsbeziehungen durchaus gepflegt wurden. Dabei reichte der antikommunistische Konsens bis weit in sozialdemokratische Kreise hinein. Auch spätere links Engagierte wie Walter und Regula Renschler wirkten in entsprechenden studentischen Initiativen mit, ebenso wie die nachmalige Bundesrätin Elisabeth Kopp. Oder der damals neunzehnjährige Medizinstudent Berthold Rothschild. Aus Solidarität mit Ungarn an die Demonstration geeilt, liessen bei Rothschild die Massenszenen in der Enge aufgrund seiner jüdischen Herkunft unangenehme Assoziationen an Pogrome und die Nazizeit aufsteigen. Noch vor Ort fühlte er sich fehl am Platz; er erlebte den Abend als «negatives Damaskuserlebnis» und engagierte sich ab den siebziger Jahren unter anderem in den Reihen der einst verfemten PdA.
Das Buch von Rafael Lutz öffnet immer wieder Seitenblicke, etwa auf den Verleger und Impressario Nils Andersson, der «Die Geschichte vom Soldaten» von C.F. Ramuz und Igor Strawinsky in Moskau aufführen wollte, was an einem Veto des SRG-Generaldirektors scheiterte; oder auf den Fotografen Léonard Gianadda, der nach einer Reportage aus Moskau praktisch Berufsverbot erhielt. Einige Lücken bleiben, wie interessierte Nachfragen zeigten, etwa ob weitere Unbeteiligte betroffen waren. Ebenso spannend wären weitere Untersuchungen zur Traditionslinie des konservativen Engagements der Studentenschaft.
Der Krawall steht in einer Reihe des schweizerischen Antikommunismus, und im bücherraum f hat es etliche Bücher zu dessen unheimlicher Geschichte, etwa Jürgmeiers «Staatsfeinde oder Schwarzundweiss», Max Schmids «Demokratie von Fall zu Fall», auch die «Unheimlichen Patrioten» von Jürg Frischknecht, Peter Haffner, Ueli Haldimann und Peter Niggli sowie einen Sammelband «Niemals vergessen», unter welcher zweideutigen Parole die Kommunistenhatz 1956 betrieben worden war. Auch die andere Seite ist vertreten, mit einer Sammlung hochtrabender Leitartikel von NZZ-Chefredaktor Willy Bretscher; der 1963 erschienene Essayband «Unbehagen im Kleinstaat» des Germanisten Karl Schmid zeigte dann erste Bruchlinien in der bislang geschlossenen bürgerlichen Phalanx.
Der Krawall im Bahnhof Enge verweist auf das Thema des Rechtspopulismus, wie schon die vorangegangenen Veranstaltungen im bücherraum f mit Philipp Löpfe zum Phänomen Trump und mit Franziska Schutzbach über die Rhetorik der Rechten. Ja, man könnte beinahe den Verdacht hegen, das sei bei der Programmierung der jüngsten Veranstaltungen im bücherraum f so geplant worden.
Tatsächlich bleibt die Diskussion darüber dringlich. Am Beispiel des Krawalls 1957 wies ein Teilnehmer in der Diskussion auf die sozialpsychologische Funktion des Sündenbocks hin, den die MoskaufahrerInnen gespielt hätten. In seinem Buch schneidet Rafael Lutz solche Erklärungsansätze an, ebenso wie Ueli Mäder in einem Vorwort und der Psychoanalytiker Mario Gmür im Nachwort. Dabei sollte man allerdings nicht mit einem Begriff wie Hysterie einem individualpsychologischen Ansatz oder sogar einer Psychiatrisierung Vorschub leisten. Der Rechtspopulismus bleibt so gefährlich als Amalgam von ökonomischen Faktoren, sozialpsychologischen Mechanismen und gezielter Organisierung von oben.
sh