Auflösung der Hegemonie

(Brexit-Splitter 7)

Er bietet sich als einziger Gewährsmann für einen harten Brexit an, koste es, was es wolle. Zugleich verspricht Boris Johnson das Ende der Austerität und verteilt freigiebig Wahlgeschenke in Form von erhöhten Staatsausgaben. Um die konservative Macht zu retten, verzichtet er darauf, die bürgerliche Hegemonie aufrecht zu erhalten.

Seine Qualitäten sind indiskutabel. Die Liste von Fehlleistungen, Peinlichkeiten und Entgleisungen nimmt kein Ende. Ja, Boris Johnson ist ein Prahlhans und ein Clown, ein Schürzenjäger und ein Lügner. Man kennt das Muster solcher erfolgreicher politischer Charaktermasken mittlerweile auf der ganzen Welt. Doch am vermutlichen künftigen britischen Premierminister lassen sich neue Facetten zur Auflösung der Politik und zum Verlust der bürgerlichen Hegemonie studieren.

Als sich Boris Johnson 2007 um das Amt des Londoner Bürgermeisters gegen den bisherigen Amtsinhaber Ken Livingston vom linken Labourflügel bewarb, meinten ein, zwei jüngere Londoner Kollegen, die ich von einem linken politischen Diskussionszirkel her kannte, sie würden ihn womöglich wählen – er sei ja noch ganz lustig und bringe etwas anarchischen Wind in die Politik. Darin steckte diese angeblich typisch englische Ironie, diese (mittelständische) Nachsicht, ja Liebe fürs Skurrile. Wo anders als in England hätte eine absurde Figur wie Jacob Rees-Mogg zu einer wichtigen politischen Figur werden können, der vom Satiremagazin «Private Eye» ebenso ironisch wie zutreffend als «ehrenwertes Parlamentsmitglied für das 18. Jahrhundert» charakterisiert worden ist? Mit der Liebe zum Skurrilen lässt sich halt vieles rechtfertigen.

Mittlerweile sind andernorts krassere Populisten an die Macht gekommen. Manche EngländerInnen halten sich weiterhin etwas darauf zugute, dass ihr Mann nicht so schlimm sei wie etwa Donald Trump. Zumindest nicht so vulgär. Johnson schreibt ja sogar wissenschaftliche Bücher! Tatsächlich lässt sich bezüglich Donald Trump sagen: Der macht Politik, um Geld zu scheffeln und sein Ego zu befriedigen. Das ist narzisstisch unbewusst. Johnson ist narzisstisch bewusst. Also opportunistisch und zynisch. Was vielleicht noch schlimmer ist.

Natürlich ist das alles im Rahmen des Brexit zum Ausbruch gekommen und durch diesen verschärft worden. Die Brexit-Debatte hat das ganze britische Koordinatensystem verschoben. Eine fundamentalistische Mehrheit in der Konservativen Partei ist mittlerweile bereit, fast alle Eckpunkte jahrhundertealter Politik zu opfern, wenn nur der Brexit kommt: die britische Union als Ausgleich mit Schottland, den Anspruch, die ganze Nation in eine bessere Zukunft zu führen, die Einheit der eigenen Partei zur Machterhaltung. Johnson hat sich der Erwartung eines schnellen, radikalen Brexit schamlos angedient. Nur er scheint für eine Mehrheit der Tories garantieren zu können, sie in das gelobte Land der splendid isolation zu führen und zugleich das erwartbare Chaos mit ein paar Witzchen und Durchhalteparolen zu verzuckern.

Dabei zeigt die «älteste Demokratie der Welt» ihre demokratischen Defizite. 160’000 Parteimitglieder der Konservativen werden bestimmen, wer der nächste Premierminister wird, ohne weiteres Volksmandat. Die angebliche Wiedergewinnung der nationalen Souveränität durch die Abkoppelung von der EU ist von Johnson bereits bei der ersten Intervention von US-Präsident Trump wegen eines unbotmässigen Botschafters mit einem Kniefall kompensiert worden.

Umgekehrt sucht das Parlament verzweifelt seine Verfügungsmacht durch arkane Abstimmungen zu sichern. Im gegenwärtigen Wahlkampf hat sich Boris Johnson nicht von der Idee distanziert, er könne, um einen Austritt aus der EU auf den 31. Oktober durchzusetzen, das Parlament kurzzeitig suspendieren – was einem kalten Staatsstreich gleichkäme. Dagegen wehren sich Unter- wie Oberhaus, indem sie ein Gesetz verabschieden, wonach die Regierung zweiwöchentlich über die Fortschritte bei der Aufrechterhaltung des Friedensprozesses in Nordirland berichten muss – womit das Parlament nicht beliebig suspendiert werden kann.

Die Person Johnson ist dabei Symptom sozialer Verschiebungen. In der «London Review of Books» zeichnet ein ehemaliger Absolvent der Eliteschule Eton nach, wie deren Absolventen, die Old Etonians wieder an die Macht drängen und welches Weltbild in ihnen steckt: Sie verbinden eine plutokratische Gesellschafts- mit einer neoliberalen Wirtschaftsauffassung und einer Nostalgie fürs entschwundene Empire. Zentral allerdings ist der selbstverständliche Führungsanspruch, an die Schalthebel von Geld und Macht zu gehören. Dieses Grundverständnis ist eher ein Instinkt denn eine ausgeprägte Ideologie. Ja, man könnte geradezu von einer Auflösung der Ideologie und des Politischen sprechen, theoretisch wie praktisch. Die Politikfähigkeit der herrschenden Klasse ist in England schwer beschädigt. Man muss sich nur die Abfolge der letzten konservativen Premiers anschauen: von der schrecklich tatkräftigen Margaret Thatcher über den aufrechten, blassen John Major zum aalglatten, inhaltsleeren David Cameron und zur starrsinnig unfähigen Theresa May bis zum Witzbold Boris Johnson. Unter der Regierung von Theresa May wurde eine Rekordzahl von MinisterInnen verschlissen, die nichts zustande gebracht haben. Die Brexit-Verhandlungen wurden von britischer Seite her dilettantisch geführt (mit partieller Beteiligung von Johnson); die seit zwei Jahren immer wieder propagierten neuen grossartigen Freihandelsverträge sind jämmerlich verschlampt worden. Das ursprüngliche Feld der NachfolgekandidatInnen für Theresa May war ein Gruselkabinett an Untoten, Unfähigen und Unbekannten.

Jede bewusste Polarisierung von rechts bedeutet auch eine mehr oder weniger bewusste Preisgabe hegemonialer Führung. Tatsächlich zerbröckelt das hegemoniale Projekt, möglichst viele subalterne Klassen und Interessengruppen unter bürgerlicher Führung einzubinden – noch der sozialdemokratische Dritte Weg mit seiner Übernahme neoliberaler Eckwerte bei gleichzeitiger sozialer Abfederung hatte dieses Projekt implizit anerkannt. Spätestens mit Brexit ist die Situation volatil geworden, sowohl nach oben wie nach unten. Die Brexiteers und mit ihnen Johnson nehmen mittlerweile eine scharfe Abgrenzung von Kreisen der Wirtschaft in Kauf, die einen gemeinsamen, möglichst reibungslosen Freihandelsmarkt wünschen. Die wichtigsten Industrievertreter wie praktisch alle Mainstream-Ökonomen warnen entsprechend vor einem harten Brexit. Selbst das Finanzkapital, aus dem führende Vertreter des Brexit-Lagers stammen und das sich anfänglich von einem Brexit neue Standortvorteile und Chancen erhoffte, ist mittlerweile verunsichert. Und von unten droht die Brexit-Partei, die die Konservativen in den EU-Wahlen in den Orkus der Unerheblichkeit gestossen hat.

Der opportunistische Populismus reagiert darauf, indem im Wahlkampf die bislang als schmerzhaft aber notwendig verkaufte Austeritätspolitik aufgegeben worden ist. Wie schon während der Brexit-Abstimmung mit den berüchtigten 350 Millionen Pfund, die nach einem EU-Austritt pro Woche für den Gesundheitsdienst frei würden, verspricht Johnson (ebenso wie sein letzter verbliebener Gegenkandidat Jeremy Hunt) wiederum das Blaue vom Himmel herunter: Steuersenkungen und gleichzeitig mehr Investitionen in Sozialpolitik und Gesundheitswesen. Das mag kurzfristig ein paar Stimmen bringen, aber mittelfristig werden die nicht gehaltenen Versprechungen das Misstrauen gegenüber der «Politik» und die zentrifugalen Kräfte verstärken.

Labour findet immer noch kein Gegen-Narrativ, im Gegenteil. Die Partei ist weiter in die Defensive geraten. Der Austritt einiger ParlamentarierInnen vom rechten Flügel und die Gründung einer neuen Gruppierung Change UK ist zwar vorläufig verpufft. Doch der von aussen geschürte und innen unzulänglich behandelte Vorwurf, antisemitische Positionen zu dulden, beschädigt das Image weiter.

Das taktische Zugeständnis, gegen einen Deal der Tories eine Volksabstimmung einzufordern und sich dabei für ein Verbleiben in der EU einzusetzen, hat kurzfristig etwas Spielraum verschafft. Eine programmatische neue Ausrichtung kann kurzfristig von Labour aber nicht erwartet werden, etwa im Hinblick auf eine umweltverträglichere Politik. Da hält Extinction Rebellion den punktuellen radikalen Widerstand aufrecht, während die Grünen bei den EU-Wahlen Fortschritte gemacht haben, ohne dass sich das bislang bewegungsmässig umsetzen liesse. Nötig wäre, meint der Kultur- und Politanalytiker Jeremy Gilbert von der University of East London, eine neue politische Arrondierung mit und über Labour hinaus, eine Koalition progressiver Kräfte. Antworten, wie die zu erreichen wäre, auf einer Postkarte, bitte.

sh

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