Die Liebe, der Tod, die Politik

«Ach die gliederlösende, böse Liebe», sagt Camille Desmoulins 1835 in «Dantons Tod», und dabei spricht er Sappho nach, der ersten griechischen Dichterin, oder zumindest der Sappho-Übersetzung Johann Gottfried Herders von 1786.

Sappho ist, schreibt Edith Hall in einem Artikel in der jüngsten Ausgabe der «New York Review of Books», neben Homer die einflussreichste Dichterin der Antike – im Englischen ist das natürlich geschlechtsneutral, was sich auf Deutsch nur mit Hilfskonstruktionen wiedergeben lässt. Als Beispiel erzählt Hall eine Geschichte, die Plutarch um das Jahr 100 herum erzählt hat. Einst musste der Leibarzt von König Seleukos an dessen Sohn Antiochos eine Krankheit diagnostizieren und erkannte sie schliesslich als Liebe zur jungen Stiefmutter Stratonike, und zwar erstellte er seine Diagnose anhand der «Symptome, wie sie Sappho beschrieb». Hatte da, fragt Hall, die Kunst nicht nur dem Leben abgelauscht, sondern formte sie umgekehrt dieses geradezu?

Neun Gedichtbände, heisst es, hat Sappho geschrieben, doch davon ist nur ein Bruchteil überliefert, bloss zwei beinahe vollständige Gedichte und rund 200 Fragmente, teilweise aus einem einzigen Satz oder einem Bild bestehend, weil sie nicht als Gedichte weitergegeben wurden, sondern in Rhetoriken oder Lyrikmanualen als Beispiele formvollendeter Einzelverse oder Rhythmen überlebten. Eine höchst kunstvolle Gedichtform ist nach ihr benannt, und ein menschlicher Kontinent, nämlich die lesbische Liebe nach jener Insel, auf der Sappho von Lesbos um 600 vor unserer Zeitrechnung lebte.

Anfang 2014 sind zwei weitere Texte von Sappho auf ägyptischen Papyri entdeckt worden, ein ganzes Gedicht und ein Fragment, und das hat einige Aufregung verursacht, ob es sich denn auch wirklich um authentische Texte handle. Erst im Januar 2015 sind die meisten KritikerInnen besänftigt worden, als der Entdecker der Handschriften endlich deren Überlieferung dokumentiert hat. Das neu präsentierte vollständige Gedicht ist aussergewöhnlich, weil Sappho darin über ihre beiden Brüder handelt und sie sich, durchaus ungeduldig, mit deren Mängeln angesichts sozialer Erwartungen auseinandersetzt: Da wird eine praktische, in ihrer Gesellschaft verankerte selbstbewusste Frau sichtbar.

Zumeist aber geht es ihr in den Gedichten um die Liebe in ihren mannigfaltigen Ausprägungen, oder es ging denen, die etwas von ihr überliefert haben, darum. «Ach die gliederlösende böse Liebe» sind die ersten zwei Worte von dem, was gemeinhin Fragment 130 genannt wird, und Herder hat weiterhin übersetzt: «Ach, die gliederlösende böse Liebe quält mich, lieblichbitter singt der untreffbare Vogel». Das hat er mit zwei weiteren Zeilen zu einem Vierzeiler zusammengebunden, aber Zeilen drei und vier stammen aus einem anderen Gedicht, dem Fragment 131, und Herder hat dabei aus der lieblichen Atthis den lieblichen Artis gemacht.

Jenes Gedicht von Sappho, das den Arzt die Krankheit von Antiochos erkennen liess, wird als Fragment 31 bezeichnet, oder nach den ersten Worten «Er scheint mir wie …», und Hall nennt es mit einer weiteren Hyperbel das «einflussreichste Gedicht aller Zeiten». Auf zwölf Zeilen werden all die Symptome jener Krankheit aufgezählt, die der Arzt diagnostizierte: Herzflattern, stockende Zunge, brennende Haut, verschleierter Blick, Ohrendröhnen, Schweissausbrüche, Schüttelfieber, Leichenblässe, aber natürlich unvergleichlich kraftvoller. Die Übersetzungen reichen vom ehernen griechischen Gefüge ohne Partikel hin zu barocker Pracht, weshalb dieser Versuch hier gerechtfertigt sei: »kalter Schweiss auf der Haut, ein Schauder tief drin, bleich wie abgebranntes Gras bin ich: tot – oder fühlt es sich beinah».

Da ist die Liebe so existenziell auf den Leib geschrieben, wie sie es immer ist.

Bei Sappho reagiert so eine Frau, die zuschauen muss, oder sich imaginiert, wie eine von ihr geliebte Frau mit einem Mann das Lager teilt, wie man das züchtig benennen könnte. So etwas schien Herder noch undenkbar oder unglaublich, und erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Homoerotik, die in Griechenland auch unter Frauen nichts so Ungewöhnliches war, in der europäischen Dekadenz zuerst doch eher unter männlichem Blick wieder entdeckt.

Ein anderes Sappho-Fragment, und zwar eines Hochzeitslieds, beginnt mit der Zeile «Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute», aber die Zeile verweist nicht so sehr auf Sapphos Original sondern auf dessen englische Übersetzung: «Raise high the roofbeams, Carpenters» – was wiederum der Titel einer langen Erzählung von Jerome D. Salinger aus dem Jahr 1963 ist. In der wird eben diese Zeile mit einem Seiferest auf einen Spiegel geschrieben und der «Kontraktdichterin» Irving Sappho zugewiesen, die die Lieblingsdichterin der Familie Glass war; geschrieben ist die Zeile kurz vor der Hochzeit Seymours, dem ältesten der Glass-Kinder, mit einer Frau, mit der er unsäglich glücklich ist, obwohl sie ihm geistig und sensibilitätsmässig (wenn das ein Wort ist) unsäglich unterlegen und er ihrer Familie unsäglich peinlich ist, und all dies Unsägliche wird präzise veranschaulicht und beredet; von seiner Schwester geschrieben, fordert die Zeile Seymour auf, fest einzutreten ins Haus der Ehe; aber der lässt die Braut an der Hochzeitsfeier sitzen, weil er angeblich, wie die Brautführerin verachtungsvoll schnaubend meint, erklärt habe, er sei zu glücklich mit ihr, und heiratet sie dann im kleinsten Kreis; wenn die Sappho-Zeile das Glück öffentlich einforderte und die Schwester solchen Anspruch in aller Ambivalenz auch von ihrem Bruder Seymour einfordert, so entzieht sich dieser gerade diesem Anspruch.

Da ist die Liebe sozial verflochten, wie sie es immer auch ist.

Von Salinger sind, wie von Sappho, letztes Jahr neue Texte entdeckt worden, oder besser, sie sind nach der ersten Zeitschriftenpublikation in den 1940er Jahren zum ersten Mal wieder in Buchform aufgelegt worden, und zumindest auf Deutsch sind sie ganz neu: «Die jungen Leute», drei Stories des jungen Autors, über prekäre Beziehungen im College oder anderswo. Das ist schon gekonnt stilsicher, die sicheren Böden brechen schon ein, und es steckt darin schon eine beiläufige Grausamkeit.

Parallel zu den Texten ist auch eine Biografie erschienen, die nicht chronologisch beginnt, sondern mit dem, was dem späteren Werk von Salinger überraschend stark zugrunde liegt: der Zweite Weltkrieg. Salinger machte als 25-Jähriger die Landung in der Normandie mit und gehörte zu jener US-Einheit, die 1945 als erste in Dachau eintraf und dort auf Tausende von Toten und Sterbenden stiess, und die Biografie enthält Bilder dazu, in denen der Lagerkommandant als Verwaltungsbeamter ungerührt zwischen Leichen steht. Am 29. April ist ja gerade des siebzigsten Jahrestags der Befreiung Dachaus gedacht worden, und Angela Merkel hat dabei eine Rede gehalten, in der sie nobel vor dem Wiederaufkommen des Antisemitismus warnte, aber mit keinem Wort darauf einging, dass Dachau ursprünglich ein KZ für politische Gefangene gewesen war.

Und da wird der Tod politisch, wie er es immer auch ist.

Stefan Howald

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