«Das aufheulende Chaos unserer Zeit»

Bücherräumereien (XIII): Eine gelegentliche Rubrik zu den Beständen des bücherraums f

Eine ganze Zeitschrift voller Buchbesprechungen. Jeden Monat. Und das aus «sozialistischer Warte». Das bot die in Berlin erscheinende «Bücherwarte» ein paar Jahre lang während der Zwischenkriegszeit. Als die Arbeiterbewegung noch über ein Netz in der Zivilgesellschaft verfügte, mit Zeitschriften, Verlagen, Lesezirkeln. Und Bibliotheken. Herausgegeben vom «Reichsausschuss für sozialistische Bildungsarbeit» der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands sollte die Zeitschrift den Verantwortlichen für die Buchbestände von Partei- und Gewerkschaftssektionen Anschaffungstipps vermitteln, aber auch interessierte individuelle LeserInnen informieren.

Die «Bücherwarte» wurde 1926 gestartet und musste im März 1933 ihr Erscheinen einstellen. Das Spektrum der Buchbesprechungen reichte weit, von wirtschaftsstatistischen Abhandlungen bis zu Kinderbüchern. Neben der Politik nahm auch die Literatur einen beträchtlichen Platz ein.

Dabei wurde die Sichtung eines möglichst breiten Angebots versucht, berücksichtigt wurden zeitgenössische Bücher aus dem In- und Ausland, von denen manche AutorInnen nicht mehr geläufig sind. Aber beispielsweise im Jahresband 1929 wurden doch auch alle wichtigen Publikationen von 1928/29 behandelt: der Erstling von Anna Seghers «Der Aufstand der Fischer von Santa Barbara», Franz Kafkas «Amerika», Alfred Döblins «Berlin Alexanderplatz», Erich Maria Remarques «Im Westen nichts Neues», «Der Steppenwolf» von Hermann Hesse.

Natürlich, zuweilen wird ein bisschen schematisch das Verhältnis von Form und Inhalt darauf abgeklopft, ob da was für den klassenbewussten Arbeiter zu holen sei; aber die Urteile sind doch bemerkenswert aufgeschlossen. Kafka sei als Klagelied über die moderne Entfremdung eine vollkommene und grosse Dichtung. «Berlin Alexanderplatz» biete eine «bewundernswürdige Virtuosität, Witz, Geist, Gesinnung und ein Lebensmosaik von staunenswerter Fülle» – wobei sich der Rezensent zum Schluss die Bemerkung doch nicht verkneifen kann, am Ende der Lektüre sei man dann doch ganz froh, dass das Buch endlich zu Ende sei. Anna Seghers Kampf der Fischer habe zwar nichts mit Sozialismus und Klassenkampf zu tun, aber die soziale Wirklichkeit sei grandios erfasst und gestaltet.

Kästner und Zech

Die politische Aufgeschlossenheit zeigt sich, wenn der nicht gerade als Revolutionär bekannte Erich Kästner und der Arbeiterdichter Paul Zech nebeneinander gewürdigt werden – einerseits heisst es, in keinem der neueren Dichter heule das Chaos unsrer Zeit so auf wie bei Kästner, andererseits wird die Lyrik von Paul Zech gerade aus formalen Gründen gelobt. Zech (1881 – 1946) wurde übrigens zu seiner Zeit von Heinrich Mann wie Else Lasker-Schüler geschätzt, war lange vergessen, wurde als apokrypher Übersetzer von Villon und Rimbaud ein posthumer Bestsellerautor, gelegentlich wiederentdeckt und wieder vergessen.

Auch Christian Morgenstern wird neben seiner Melancholie und seinem Witz politische Bedeutung zugestanden, oder er wird zumindest als ironischer Kommentator des politischen Zeitgeschehens gelobt. Zu Remarques schonungsloser Darstellung des 1. Weltkriegs wird allerdings bei aller Zustimmung kritisch angemerkt, dass jedes Kriegsbuch zu einem gewissen Grad den Krieg normalisiere. Streng ins Gericht wird dann mit einem Kriegsroman von Arnolt Bronnen gegangen, der einst als junger Wilder zusammen mit Bert Brecht die Theaterszene aufgemischt hatte. In seinem jüngsten Roman aber benutze er, so meint der Rezensent, «seine sehr fortschrittlichen epischen Ausdrucksmittel zu dem Versuch, eine höchst rückschrittliche Daseinsform zu rechtfertigen», nämlich rechtsradikale Freikorpsmitglieder von 1920/1921. Dabei zeige sich eine penetrante «Ehrfurcht vor jeder Form Militärfexerei», kurzum «den ganzen Roman beherrscht ein Snobismus der Unreife und Roheit».

Natürlich kommt man aus «sozialistischer Warte» nicht um neue Publikationen zu Marx und Engels herum. Ein Sammelband mit Kritiken der beiden Alten an den sozialdemokratischen Programmentwürfen von 1875 und 1891 muss gegen die These der KPD gerettet werden, damit werde die Sozialdemokratie grundsätzlich kritisiert, denn: «Ihre Erwägungen über die politische Praxis der Spezialdemokratie gelten für einen politisch-ökonomischen Zustand, der sich von dem gegenwärtigen sehr wesentlich unterscheidet.» Die «Bücherwarte» scheut andererseits nicht davor zurück, den zweiten Band des «Marx-Engels-Archivs» aus dem Marx-Institut aus Moskau insgesamt positiv zu besprechen – das Institut stand im Übrigen zeitweilig oppositionell zum Stalin-Kurs.

Auf einem anderen Pol des kulturgeschichtlichen Spektrums steht ein Band wie «Afrika singt», und dabei wird einer der Übersetzer genannt, H. K. – der ist seinerseits mehrfach mit der Schweiz verbunden, lebte hier als Publizist, als Romanautor, wurde dann ein Vertrauter von Robert Musil in dessen Schweizer Exil von 1938 bis 1942, und noch heute leben seine Witwe und seine Tochter hier. Apropos Schweiz: Besprochen werden auch Verena Conzetts autobiografische Aufzeichnungen «Erstrebtes und Erlebtes», und zwar durch Luise Kautsky, wobei dem Buch eine «einfache Sprache und ein anspruchsloser natürlicher Stil» bescheinigt werden, die allerdings die dramatischen Ereignisse dieses Lebens durchaus wirkungsvoll veranschaulichten.

Die Besprechung von Sachbüchern reicht im Übrigen bis hin zu Schriften übers Rettungsschwimmen oder «Das Turnen am Barren». Auf der andern Seite, oder vielleicht in der Verlängerung der Körperkultur, wird auch die Sexualwissenschaft berücksichtigt, werden Studien von Magnus Hirschfeld, Hendrik van de Velde und Max Hodann rezensiert.

Arthur Goldstein

Ein paar VerfasserInnen von Rezensionen haben in der Kulturgeschichte einen gewissen Klang, etwa Kurt Pinthus, der Propagandist des Expressionismus, oder die damals bekannte Autorin Gina Kaus, dann auch die eminente Sozialistin Luise Kautsky. Aus andern Namen entfalten sich zeitgenössisch wichtige, heute kaum mehr bekannte Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung. Etwa Paul Kampffmeyer (1864 -1945), ein vielseitiger Publizist aus liberalem Bürgerhaus, der nach anarchistisch-libertären Anfängen die Gartenstadtbewegung propagierte, schon 1923 über den deutschen Faschismus schrieb und später das SPD-Parteiarchiv aufbaute.

Oder Arthur Goldstein (1887 -1943), ein Schicksal aus dem kurzen 20. Jahrhundert. 1914 wurde der Journalist SPD-Mitglied, Ende 1918 Mitgründer der KPD, bald auf dem antiparlamentarischen oppositionellen Flügel bei der linksradikalen Kommunistischen Arbeiter-Partei KAPD anzutreffen, die in den folgenden Jahren von mehrfachen Spaltungen durchzogen wurde. Goldstein selbst trat bereits 1923 wieder der SPD bei, «entristisch», wie es in einem Wikipedia-Beitrag heisst, da er weiterhin einen rätedemokratischem Kurs mit trotzkistischen Neigungen unterstützte und 1932 den Aufbau der klandestin wirkenden Widerstandsgruppe der Roten Kämpfer befürwortete. Dennoch konnte er in all diesen Jahren in sozialdemokratischen Zeitschriften wie der «Bücherwarte» schreiben. 1933 flüchtete er vor den Nazis nach Frankreich, wurde dort 1943 verhaftet, vom Sammellager Drancy nach Auschwitz transportiert und kurz nach der Ankunft ermordet.

Goldstein schreibt in der «Bücherwarte» mehrheitlich zur Literatur, aber auch zur Ökonomie und zur Politik. Während seine Literaturkritik zumeist sachgerecht ist, schlägt bei den politischen Büchern zuweilen die parteipolitische Bindung stärker durch. Einen Reisebericht aus der Sowjetunion des österreichischen Feuilletonisten Arthur Holitscher watscht er mit der schönen Formulierung ab, hier sänken sich Leninismus und Katholizismus gerührt in die Arme. Scharf kritisiert er auch einen Rechenschaftsbericht von Max Hoelz, dem abenteuernden Führer der Märzkämpfe 1921 im Vogtland. Hoelz sei es, meint Goldstein, nur um die Befriedigung eines persönlichen Rechtsgefühls gegangen, während er von geschichtlichen Zusammenhängen und Entwicklungen sowie von historischen Grundkräften absolut nichts verstanden habe – was insofern eine pikante Note besitzt, weil Hoelz eine Zeitlang wie Goldstein bei der KAPD mitgewirkt hatte.

Zuweilen stösst man in der «Bücherwarte» auch auf Hinweise zu Büchern, die einem als positives Gerücht bekannt sind und die man vielleicht einmal hätte lesen wollen, etwa Egon Friedells «Kulturgeschichte der Neuzeit». Die entsprechende Besprechung wendet allerdings kritisch ein, Friedell sei ein Vertreter eines impressionistischen Feuilletonismus, der Geschichte auf Klatsch reduziere, und präsentiert als Beleg ein längeres Zitat über die Darstellung der Französischen Revolution, die Friedell als «Schundroman» versteht, mit der «Kellerratte» Marat, einem Danton, der «abwechselnd blutgierig und gutmütig, stumpf und intelligent wie ein ungezähmter Bullenbeisser» sei und einem Robespierre als «dämonisch gewordener Oberlehrer» – und da weiss man, das positive Gerücht war falsch, und man kann sich die Lektüre dieses Buches schenken. So eröffnet die «Bücherwarte» in Zustimmung wie Kritik ein kulturhistorisches Universum.

sh

Der Jahrgang 1929 der «Bücherwarte», aus dem Bestand von Gretlers Panoptikum übernommen, steht im bücherraum f im mittleren Raum in der Abteilung R (Referenzwerke).

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