«Hoch die internationale …»

Urs Sekinger im bücherraum f

Was denn die drei Pünktchen im Titel zur Veranstaltung zu bedeuten hätten, habe er sich bei der Vorbereitung auf diesen Abend gefragt: ironische Distanz oder gar Absage an die internationale Solidarität? In letzterem Fall müsste er denn doch Widerspruch anmelden, meinte Urs Sekinger bei einem Vortrag im bücherraum f. Denn, ja, internationale Solidarität sei weiterhin nötig, und, ja, sie existiere auch. Beim Solifonds habe er immer wieder eindrückliche Menschen kennen gelernt, die sich unermüdlich und unerschrocken für eine gerechtere Gesellschaft einsetzten.

28 Jahre lang hat Urs Sekinger als Koordinator für den Solifonds gewirkt, und im bücherraum f blickte er Anfang Oktober auf die Geschichte der Schweizer Solidaritätsbewegung zurück. Dabei verortete er diese in Bezug zur Gapo, der globalen ausserparlamentarischen Opposition. Und er wies auch auf grundlegende Spannungen hin: Das unvermeidliche Geld stelle asymmetrische Machtbeziehungen her, vor allem zwischen Nord und Süd, aber auch im Norden selbst, wo unbezahlte und bezahlte Solidaritätsarbeit aufeinander träfen.

Die 1970er Jahre waren theoretisch ebenso wie praktisch gekennzeichnet durch einen Antiimperialismus und die Dependenztheorie. Verschiedenste Strömungen waren in der Drittweltarbeit aktiv, die Bananenfrauen ebenso wie Befreiungstheologen. Ein entscheidendes Ereignis für die Schweizer Solidaritätsbewegung bedeutete das grosse «Symposium der Solidarität» vom Mai 1981 mit 3000 BesucherInnen. Dabei wurde dem vorherrschenden Konzept der «Entwicklungshilfe» eine neue Definition von Entwicklung entgegengesetzt: «Entwicklung heisst Befreiung», und zwar Befreiung aus Unterdrückung, Abhängigkeit und Armut. Auch der «Solidaritätsfonds für den sozialen Befreiungskampf in der Dritten Welt» wurde 1983 in diesem Rahmen gegründet und hat seither als Solifonds Dutzende solcher Kämpfe unterstützt.

In dieser neuen Entwicklungszusammenarbeit wurde immer auch der Kontakt zur migrantischen Bewegung gesucht und die Verantwortung des Finanzplatzes Schweiz thematisiert – Urs Sekinger beschrieb diesen ebenso breiten wie tiefen Ansatz nicht nostalgisch, aber ein bisschen wehmütig, weil beide Aspekte seither eher zu kurz gekommen seien.

Denn in den 1990er Jahren gewann einerseits der neoliberale bzw. neokonservative backlash an gewalttätiger Dominanz, andererseits kamen manche kritische Initiativen in den internationalen Institutionen an. 1992 wurden bei der Uno-Konferenz für Umwelt und Entwicklung erstmals die Zivilgesellschaft und NGOs als GesprächspartnerInnen berücksichtigt. Letzteres führte aber auch zu Spannungen in der Solidaritätsszene, da jene Organisationen, die sich durch Lobbying und Mitarbeit an runden Tischen mehr Einfluss erhofften, direkte Aktionen zuweilen als kontraproduktiv ablehnten. Schmerzhaft deutlich wurde die Spaltung 1992 anlässlich der Abstimmung, ob die Schweiz dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beitreten solle: Sollte man sich im Innern des Molochs um Reformen bemühen oder von aussen an der Fundamentalkritik festhalten? Gleiches galt in Bezug auf das WEF in Davos: Einerseits wurde gegen dessen Abhaltung demonstriert, andererseits wurden Gegenveranstaltungen organisiert, die schliesslich in den offiziellen Rahmen eingefügt wurden.

Neue Politformen aus dem Süden

Parallel dazu erhielt die internationale Bewegung ungeahnte Anstösse durch den Aufstand der Zapatistas, die zugleich eine neue Form widerständiger Politik vorführten, oder durch die Gründung von Via Campesina der KleinbäuerInnen, Landlosen und Indigenen mit Mitgliedern aus über achtzig Ländern. Ein People`s Global Network entstand. Die Uno-Frauenkonferenz von 1995 war ein Verbindungsstück: in offiziellem Rahmen abgehalten, aber weitgehend selbst gestaltet. Umgekehrt erreichte die Konfrontationsstrategie ihren Höhepunkt 1999 bei den Demonstrationen gegen das WTO-Treffen in Seattle und 2001 in Genua, wo ein Demonstrant von einem jungen italienischen Polizisten erschossen wurde. Dem standen seit 2001 die basisdemokratischen und selbstverantwortlichen Weltsozialforen gegenüber. Kurz zuvor war Attac gegründet worden, womit aufs Neue grundsätzliche Fragen nach einem gerechteren Weltwirtschaftssystem aufgeworfen wurden: Eine andere Globalisierung ist möglich. Margaret Thatchers Slogan TINA («There is no alternative») wurde TATA entgegengestellt: «There are thousands of alternatives».

Die Debatte um ein neues Weltwirtschaftssystem hat für Sekinger nach der Weltfinanzkrise von 2008 neue Bedeutung gewonnen; sie ist eingebettet in und direkt verbunden mit dem Kampf um Menschenrechte und um öffentliche Güter.

Dabei stossen viele Sozialbewegungen heute auf eine zunehmende Kriminalisierung, sei es durch Repression in den Ländern des Südens, sei es etwa mit dem Einfrieren von Unterstützungsgeldern unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung im Norden, wobei sich für einmal die Schweizer Banken mit vorauseilendem Gehorsam hervortun. Umso wichtiger seien gezielte Unterstützungen; und er erfahre immer wieder aufs Neue, wie die Menschen im Süden durch Solidaritätsbekundungen aus dem Norden ermutigt würden.

Jetzt hat sich mit der Klimabewegung ein neuer Wind erhoben. Sie ist zu Recht wachstumskritisch. Aber, fragte Sekinger zum Abschluss, kann sie auch die sozialen Fragen im Süden aufgreifen? Die Jungen dächten verdienstvollerweise global, aber sie müssten sowohl sozial wie global denken.

Wider die bipolare Weltsicht

Hier setzte die lebhafte Diskussion ein. TeilnehmerInnen an den bisherigen Klimademos wiesen darauf hin, dass die Bewegung bislang schon ganz erstaunliche Verbindungen zwischen einer älteren und einer neueren Generation herzustellen vermochte; vermehrt würden VertreterInnen aus dem durch die Klimakatastrophe bedrohten Süden eingeladen, was konkrete Solidaritätserfahrungen ermögliche, und entsprechend würden auch soziale Forderungen neu gestellt – denen in den Leitmedien sofort mit abwiegelnden, eingrenzenden Ratschlägen geantwortet wird.

Einigen konnte, oder musste, man sich darauf, dass der Bewegung eine mittlere Generation verloren gegangen ist, jene 35- bis 50-Jährigen, die im Neoliberalismus aufgewachsen sind. Auch bestimmte humanitäre und kirchliche Institutionen haben sich entpolitisiert. Diese Generation ist zwar für kurzfristige, punktuelle Solidarität zu mobilisieren, aber nicht mehr für langfristige Verpflichtungen.

Nach aktuellen Aktionen befragt, äusserte Sekinger einen gelinden Vorbehalt gegen die Konzernverantwortungsinitiave. Natürlich sei diese wichtig, die Diskussion darüber und ihre womögliche Annahme wären ein Fortschritt. Aber sie drohe auch, anderweitig benötigte Ressourcen abzuziehen, denn eventuelle Gerichtsverfahren seien notorisch lang und kostspielig, wie Erfahrungen der südafrikanischen Apartheidopfer und ihre Entschädigungsklagen in den USA gezeigt hätten.

Unzweifelhaft sind frühere Gewissheiten unsicher geworden, ja zerbrochen. Zum Glück, wurde aus dem Publikum bekräftigt. Tatsächlich haben die grossen übergreifenden Erzählungen zur Weltgeschichte, eine bipolare Weltsicht zu verheerenden Entwicklungen und Enttäuschungen geführt. Was umso dringender die Frage aufwirft: Wie lässt sich eine neue gefühlsmässige Empathie, ein nachhaltiges Engagement herstellen?

Für Urs Sekinger basiert eine kritische Entwicklungszusammenarbeit weiterhin auf Selbstbestimmung, auf gegenseitiger Anerkennung und Respekt. Doch wer darf im konkreten Fall bestimmen, was Widerstand heisst, wurde gefragt? Soll eine indigene Gemeinschaft unterstützt werden, die unökologisch den Urwald abbrennt? Nach Sekinger müssen solche Fragen vorgängig geklärt werden, wenn eine Kooperation entschieden wird – dabei behalte sich der Solifonds aufgrund seiner Position durchaus kritische Stellungnahmen vor.

Tatsächlich leuchtet die Hoffnung weiter voran. Neben Klimabewegung und Frauenstreik gewinnt Sekinger auch Zuversicht aus dem Arabischen Frühling. Natürlich, der ist in einzelnen Ländern zurückgegangen, hat in Repression und Bürgerkrieg geendet. In andern Ländern aber ist das kritische, selbstbewusste Denken immer noch, oder wieder, da, in Marokko, Algerien, selbst in Ägypten, oder dann auch in Brasilien und in Kolumbien.

Es ist die alte Ermessensfrage: Ist ein Glas halb voll oder halb leer? Sekinger tendiert zu Ersterem. Neben seiner Tätigkeit beim Solifonds hat er sich auch sonst vielfältig engagiert, über dreissig Jahre lang, von Nummer 12/86 bis 72/18, als Redaktor beim «Widerspruch», als Präsident der Sektion NGOs beim VPOD, als Stiftungsrat bei verschiedenen Initiativen. Auch nach dem Rücktritt beim Solifonds wird er solches Engagement weiterführen, mutig und ermutigend.

sh


Buchhinweis aus dem bücherraum f:

Dieses kostbare Gut der Solidarität. 25 Jahre Solifonds. Herausgegeben von Stefan Howald. Edition 8, Zürich 2008.

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