So sieht Europa auch aus: In einigen französischen Städten werden gegenwärtig, neben Protestaufrufen, als Flugblätter so genannte «Hebel-Colportages» verteilt. Dabei handelt es sich um übersetzte Geschichten von Johann Peter Hebel. Initiant der Aktion und verantwortlich für die Flugblätter ist der Verlag pontcerq im bretonischen Rennes.
Johann Peter Hebel (1760 – 1826), Basler, Rheinländer, Alemanne hat mit seinen «Alemannischen Gedichten» (1803) und dem «Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes» (1811) eine Tradition der kleinräumigen lokalen Literatur begründet. «Hebel verbauert auf die naivste, anmutigste Weise durchaus das Universum», hat Goethe gesagt, und das ist bei aller Herablassung des Geheimen Rats doch als ein beträchtliches Kompliment gemeint. Die genaue Beiläufigkeit, mit der scheinbar klare Sachverhalte auf eine mögliche andere Bedeutung abgeklopft werden, kann man wahlweise als Bauernschläue oder plebejische List verstehen – kein Wunder, wurde Hebel neben Franz Kafka auch von Bertolt Brecht, Walter Benjamin und Ernst Bloch geschätzt.
Die Kleinform vervollkommnete der in Basel geborene Hebel neben seiner Lehrtätigkeit als Redaktor eines Bauernkalenders in Karlsruhe, so wie ja auch Heinrich von Kleist zur gleichen Zeit Beiträge für die «Berliner Abendblätter» zu ehernen Anekdoten stanzte.
Im benachbarten Frankreich freilich ist Hebel praktisch unbekannt. Im Verlag Pontcerq sind jetzt einige seiner Kurztexte ins Französische übersetzt und in einem kritischen Kontext publiziert worden. Der immer wieder mit originellen Aktionen aufwartende Kleinverlag will die Hebelschen Kalendergeschichten als Konterbande in Frankreich einschmuggeln, in blogs, in öffentlichen Rezitationen und auf Flugblättern – schliesslich hat Pontcerq auch mal den «Hessischen Landboten» von Georg Büchner in einer zweisprachigen Version vorgelegt. Mit bei der Aktion sind einige Buchhandlungen in ganz Frankreich, in denen die «Pontcerq-Flugblätter» gratis aufliegen.
Nicht nur die Form der «Hebel-Colportage» wird als Konterbande verstanden, sondern so werden auch die Geschichten interpretiert, da sie zumeist eine zweite Botschaft transportierten. Wenn sich «Zwei honette Kaufleute» gegenseitig vorrechnen, durch welche Diebstähle sie ihre Besen noch günstiger verkaufen können, so kann man dahinter tatsächlich hervorgucken sehen – die spätere Marxsche Mehrwerttheorie. Oder wenn in der Geschichte «Ein Kriegsschiff» scheinbar nüchtern die Materialien aufgelistet werden, die es zum Bau eines Kriegsschiffs braucht, so wird darin unaufdringlich auf die ungeheuerliche Verschwendung von Natur und Arbeitskraft, und Leben, hingewiesen. In «Das letzte Wort» lässt in einem feudalen Streit zwischen einem Herzog und seinem Kanzler ersterer dem letzteren das letzte kritische Wort, nur, um es ins Leere laufen zu lassen. Daraus wird zwar erstens eine Lehre gezogen, die konservativ davon abrät, sich mit Vornehmen, sozial Bessergestellten anzulegen. Aber in einer zweiten Lehre heisst es, dass man bei Meinungsdifferenzen nicht gleich mit «Scheltworten und Fäusten» dreinfahren soll, was 1813 doch auch gegen die inter-nationale Gewalt gerichtet ist.
Bemerkenswerterweise wird in einer Anmerkung des Verlags ein ähnlicher Schachzug geistreicher Replik aus dem Dreissigjährigen Krieg nicht etwa einer französischen Geschichtsschreibung entnommen, sondern einer Tagebuchnotiz von Ernst Jünger, die dieser 1944 nach dem Rückzug aus dem eben gerade befreiten Paris geschrieben hatte – auch solche prekären Zusammenhänge sind natürlich europäisch.
Weitere Pontcerq-Flugblätter präsentieren unter anderem eine Rede von Elias Canetti zu Hebel sowie kleinere Texte von Hebel selbst.
Stefan Howald
http://www.pontcerq.fr/