Erkaltete Liebe, und neu entflammt

Da ist also dieses Buch, Marlen Haushofers «Die Wand», 1963 erschienen, in einer Taschenbuchausgabe von 1985, und einer Freundin am 16. November 1985 gewidmet worden. Aber dann ist es am 18. Mai 1986 mit einer weiteren Widmung versehen worden, womöglich in der gleichen Schrift, jedoch mit anderen Initialen unterschrieben? Da wäre also das ihr geschenkte Buch von der Beschenkten weitergeschenkt worden, oder die Schenkende hätte es gar – versehentlich oder absichtlich – zurück erhalten und es dann, hartnäckig, erneut verschenkt. Jedenfalls ist das Buch mehrfach verwendet worden, und das ist ja gut so.

Denn Bücher müssen gebraucht werden, und da es zu viele gibt – aber kann es denn zu viele Bücher geben? –, gibt es zusehends Orte, Veranstaltungen, öffentliche Kästen und Kisten, in denen sie getauscht und ausgetauscht werden können. Im philosophe, dem gediegenen Kulturtreff in Dielsdorf, ist das, jeweils kurz nach Weihnachten, bereits zu einer schönen Tradition geworden. Einmal habe ich dabei eine Ausgabe aus dem Jahr 1985 mit Schriften von Erich Mühsam gefunden, dem eine auf den Namen Erich Mühsam ausgestellte Zahlkarte für seine Zeitschrift «Fanal» von circa 1930 beilag. Solche Funde sind freilich die Ausnahme, weil für diesen in lockerem Rahmen, mit Kaffee (oder Tee) und Kuchen durchgeführten Anlass eher modernere Titel mitgebracht werden. Deren guter Zustand ist selbstverständlich, niemand will sich, selbst anonym nicht, mit Eselsohren blamieren. Sagen wir also Bücher ab den 1980er Jahren. Viel zeitgenössische Schweizer Literatur, Hansjörg Schneider, Helen Meier, Martin Suter, und was von den ErstleserInnen abgegeben wird, spricht ja kein Werturteil über die betreffenden AutorInnen aus, sondern dokumentiert zuerst einmal das breite Spektrum an bereits Gelesenem, dann, dass da Platz geschaffen wird für Neues, und schliesslich, dass das Gebrauchte wohl immer noch oder vielleicht oder hoffentlich neue LeserInnen findet.

Zuweilen scheint ein ganzes Gestell ausgemistet oder eine Liebe erkaltet zu sein: Da sind sechs Bücher von Johannes Mario Simmel aufgereiht, den man durchaus nicht gering schätzen sollte, da er mal grüne Krimis avant la lettre geschrieben hat. Daneben eine Beige Hans Küng – auch der war mal für eine Generation und ein Milieu wichtig.

Neben Koch- und Reisebüchern sind natürlich ebenfalls Yoga und Lebensberatung vorhanden. Ansonsten eher wenig politische Sachbücher; eine Studie über «Rote Patriarchen» sticht heraus, nicht wegen des eher blassen Umschlags. Ganz unauffällig ist ein wenig Erotik unter das Angebot gestreut, ein Taschenbuch von E. L. James´ «50 Shades of Grey», von denen es drei Bände geben soll, also insgesamt 150 Schattierungen, die längst im Mainstream angekommen sind, und ein Band über den «Super-Orgasmus», der aber (aber?) zur Lebensberatung gehört haben mag.

Dann wieder, erhebend zu sehen, Lyrik, etwa Anna Achmatowas «Requiem» in einer schönen Ausgabe von 1987 aus dem Oberbaum-Verlag, den ich während meines Studienjahrs in Berlin noch als maoistische Kaderschmiede gekannt hatte. Geschenkt worden ist das «Requiem» von einer Mutter an ihre Tochter: Dass sie nie den Mut verlieren solle. Eine deutsche Taschenbuchausgabe von Simone De Beauvoirs «Die Mandarine von Paris» ist mit dem handschriftlichen Vermerk versehen «Von meinem Sternchen erhalten», und das wirft nun Fragen nach dem Geschlecht dieses Sternchens auf, was zugleich einen launigen Kalauer mit dem gender-Sternchen in der heutigen Schreibweise darstellt.

Ebenso findet sich, grau, kompakt, düster, der dritte Band der «Ästhetik des Widerstands» von Peter Weiss – ob da jemand die Lektüre nach den ersten beiden Bänden aufgegeben hat? aber dann hätte er diese vermutlich auch zum Tauschen mitgenommen, oder es war ein bewusster Entscheid, die ersten beiden Bände als wichtiger oder lesbarer einzuschätzen, was ein Irrtum wäre, doch ein verständlicher, weil dieser dritte Band in den unerbittlich genau geschilderten Tod in KZ und Nazi-Gefängnissen und beinahe in die Verzweiflung mündet, die doch nur durch einen letzten Kraftakt in einem allerdings wieder umwerfenden Bild von der Selbstermächtigung aufgehoben werden kann.

Eine der jüngeren TeilnehmerInnen nimmt sich vor allem ältere Bücher vor, Tolstoi in einer Ausgabe des Schweizer Druck- und Verlagshauses, einst auch in den Büchergestellen meiner Eltern vorhanden, und Platon, in Reclam-Gelb. Selbstverständlich kann auch ich nicht widerstehen, wobei meine Begierde ebenfalls eher aufs Ältere zielt. Ein Band «Gegen rote und braune Fäuste. 380 Zeichnungen aus dem Nebelspalter 1934 bis 1948», leicht verbogen, ein Zeitdokument zum aufrechten Zeichner Bö, nur mit einer kleinen Spur Schweizer Selbstgerechtigkeit. Und von Elsie Attenhofer ein Erinnerungsband, den sie nicht nur signiert, sondern auch mit ihren früheren Büchern annotiert hat.

Die meisten, die kommen, bringen Bücher mit, alle gehen mit einigen weg, insgesamt zwar weniger, als sie gebracht haben, und dennoch hält der Austausch die Lesekultur in Gang.

sh

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