Münchhausen-Effekt

Beim Stöbern in älteren Buchbeständen, was man nicht gerade als Aufräumen bezeichnen kann, auf das «alternative»-Heft Nummer 118 aus dem Jahr 1978 gestossen. Ja, die «alternative». Die war mal bahnbrechend, transportierte ab Ende der sechziger Jahre den französischen Poststrukturalismus nach Deutschland, vor allem in seiner marxistischen Variante: Louis Althusser und Etienne Balibar zuvorderst, aber etwa auch Michel Pêcheux.

Von dem stammt dieser Begriff: «Münchhausen-Effekt». Er trifft mich, da wir gerade die redaktionellen Arbeiten an einem Band mit «neuen Perspektiven» zum «Phänomen Münchhausen» abschliessen. Pêcheux hat den Begriff in seinem Buch «Les vérités de La Palice. Linguistique, sémantique, philosophie» von 1975 eingeführt. Mit ihm will er auf die «metaphysische Phantasie» aufmerksam machen, wonach sich das Subjekt als Quelle seiner eigenen Existenz versteht, sich als mächtig, eigenverantwortlich usw. setzt, obwohl es doch nur der Effekt ökonomischer und ideologischer Mechanismen ist, und er benennt diese Illusion in «Erinnerung an den unsterblichen Baron» und dessen in der klassischen, von Gottfried August Bürger der ersten englischen Münchhausen-Fassung beigefügten Geschichte überlieferten Fähigkeit, sich, mitsamt Pferd, am Perückenzopf aus dem Sumpf zu ziehen, in dem er zu versinken droht.

Nun gebe ich nicht vor, Pêcheuxs Buch gelesen zu haben; einige Auszüge daraus, im ursprünglichen «alternative»-Heft wie aktuell auf Englisch im Internet überflogen, bestärken mich im Vorurteil, dass der bei Althusser vorherrschende Gestus der vorbereitenden Umkreisung und Zerlegung von Problemen, der doch zumeist zu einer anregenden These führt, bei Pêcheux nur den ewigen Aufschub vorführt, und das bei Althusser zuweilen mystifizierende Vokabular, das doch zumeist einen realen Kern enthält, zum mystifizierenden Geraune geworden ist.

 Der «Münchhausen-Effekt», immerhin, ist ein verständliches, kräftiges Bild. Ebenso kräftig, wenn auch nicht gerade virtuos, ist die auf dem Titelblatt der «alternative» abgedruckte anonyme Illustration, die im Bildnis, oder besser: im Kopf des Barons anscheinend auf die berühmteste Münchhausen-Darstellung von Gustave Doré zurückgreift.

Die Zeichnung hat das Subjekt M. zerstückelt: in Haupt (mit Perücke) und Arm. Dabei hat die Hand den Zopf bereits losgelassen und lässt das Haupt zu Boden stürzen, in eine Blutlache: Das Subjekt ist doppelt entmachtet; ein Vorfall, der in zeitgenössischer Terminologie zuweilen mehr oder weniger weitreichend und gelegentlich auch blutig als Revolution gedacht und benannt wurde.

Tatsächlich erinnert das Bild ikonografisch an jene Phase der französischen Revolution, in der die Häupter der Adligen durch die Guillotine von ihren Rümpfen getrennt wurden, und es mag, im Jahr 1978, auch an jene Taten erinnern, die im einleitenden Artikel im gleichen «alternative»-Heft als «Provokationen der RAF» bezeichnet werden. Andererseits mag sich die Lache auch als grosser Tintenklecks lesen lassen, was den Subjektsturz zum literarischen Akt erklärte.

Erkenntnistheoretisch bleibt das Bild allerdings defizitär. So verspricht es, die Frage der Subjektkonstituierung mit einem Streich zu erledigen, indem die Frage durchgestrichen, also der gordische Knoten zerhauen wird. Mit diesem Voluntarismus wird gerade nicht eingelöst, was der Untertitel des Hefts verspricht, nämlich die Materialität der Ideologie zu zeigen, die Subjektivität entstehen lässt. Insofern illustriert die Zeichnung nicht nur den Sturz des Subjekts, sondern auch die Ohnmacht der Theorie, die das Subjekt gestürzt hat.

sh

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