Das Volk und seine FührerInnen

Was Populismus ist und was seinen Erfolg ausmacht, scheint klar. Vielleicht doch nicht ganz. Pierre Rosanvallon liefert eine umfassende Theorie, mit neuen Einsichten.

Wird der Trumpismus nach Trump überleben?, hat der Politologe Jan-Werner Müller kürzlich in einem Artikel gefragt und die Antwort gegeben: in dieser Form nicht, weil die Person und die Figur Trump für seine Bewegung unersetzlich sind. Was künftige andersartige Massenbewegungen nicht verhindere. Andere KommentatorInnen sehen in Trumps Niederlage einen Rückschlag für rechtspopulistische Bewegungen weltweit.

Der Terminus Rechtspopulismus ist eingebürgert und scheint konsensual definiert. Der französische Historiker und Demokratieforscher Pierre Rosanvallon bestreitet das mit guten Gründen und legt einen ausführlichen Versuch zu einer Theorie des Populismus vor, erläutert an historischem und aktuellem Material.

Fünf Grundelemente macht er in einem ersten Teil aus: Ein Volk wird konstruiert, das als einheitliches gegen alle andern Gesellschaftsmitglieder gesetzt wird; das Repräsentationsprinzips in der Demokratie wird verworfen und dagegen die Evidenz des «Gemeinwillens» und von Volksabstimmungen gesetzt, samt Kritik der Legislative; statt der klassischen Parteiform wird eine Bewegung mit Führungsfigur aufgebaut; ein wirtschaftspolitischer Protektionismus wird zugleich als Nationalprotektionismus gegen die Migration angeboten; Leidenschaften und Emotionen werden gegen die Technokratie und das ExpertInnentum bewirtschaftet.

Der plötzliche Charme der Volksabstimmung

Diese Passagen sind glänzend und überaus verständlich geschrieben. Manche Einsichten sind nicht neu, etwa die Betonung der Emotionen und des Führerprinzips, aber überzeugend ist es, wie das Zusammenspiel mehrerer Faktoren detailgenau analysiert wird. Sein Material liefern vor allem die USA, Frankreich und Lateinamerika. Andere Brutstätten des Rechtspopulismus wie Deutschland und Italien werden nur gestreift; die Schweiz wird als Bezugspunkt für den plötzlichen Charme von Volksabstimmungen erwähnt, ohne deren spezifische Mechanismus zu studieren.

Als ein besonderes Element führt Rosanvallon das Konzept des «Homme-peuple» ein. Als Beispiel dient ihm Napoleon III. während dessen Herrschaft von 1851 bis 1870. Der reiste im Land herum, um sich die Sorgen des «Volks» anzuhören, und gab sich nachher nicht etwa als dessen Repräsentant, sondern als «das Volk selbst» aus, als dessen geradezu gottgegebener Wille. Dieser – nur schwer übersetzbare – Begriff bedient nach aussen die Ablehnung des Repräsentationsprinzips und rettet zugleich praktisch das Führerprinzip.

War (und ist) Trump ein Homme-peuple? Es gab und gibt Ansätze dazu, aber sie sind nicht ausgearbeitet worden. Die 74 Millionen, die bis zum Ende für ihn gestimmt haben, wollen glauben, dass er sie versteht und vertritt. Aber er geht nicht zu den Menschen, um sie kennenzulernen, er kennt sie ja schon, und sie ihn. Die in den Medien geschaffene Figur Trump ist ihre eigene Rechtfertigung. Er bietet sich weder als Repräsentant noch als Verkörperung des Volks an, sondern als Vorbild, an das sich die anderen angleichen sollen. Im (angeblichen) Milliardär, der seinen (angeblichen) Reichtum schamlos zur Schau stellt, wird das meritokratische Versprechen sozialen Aufstiegs sichtbar. Das hat eine aktivierende Potenz, was seine Bewegung so virulent macht.

Für den Homme-peuple gibt es andererseits mehr oder weniger krasse Beispiele auf der Linken, von Hugo Chavez bis zu Jean-Luc Melénchon. Von letzterem zitiert Rosanvallon etliche bezeichnende Aussagen, etwa «ich bin mehr als Jean-Luc Mélenchon, ich bin 7 Millionen Personen». Entsprechend hat Rosanvallon für den Linkspopulismus nicht viel Sympathien übrig. So wirft er deren HaupttheoretikerInnen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe vor, letztlich einen essenzialistischen Volksbegriff zu vertreten; auch in der Formulierung von den 99 Prozent unten gegen die 1 Prozent oben äussere sich das rechtskonservative Freund-Feind-Schema von Carl Schmitt.

Fürs Repräsentationsprinzip

Rosanvallon meint, durchaus ehrenhaft, eine Kritik könne sich nicht vor der Formulierung von Alternativen herumdrücken. Einen entsprechenden Versuch unternimmt er im dritten Teil seines Buchs. Dabei wird der Akzent verschoben. Populistischen Positionen wird vor allem ein anderes demokratietheoretisches Konzept entgegengestellt. Detailliert begründet er zum Beispiel, warum das Repräsentationsprinzip nicht vollständig durch «direktdemokratische» Formen ersetzt werden kann. Das ist verdienstvoll und knüpft an dem an, was er in seinem Buch «Die gute Regierung» (französisch 2015, deutsch 2016) begonnen hat.

Seine Alternativen lassen aber die Frage offen, wie der Populismus zu bekämpfen wäre, wie Menschen von ihren populistischen Positionen abgebracht werden könnten. Natürlich, Rosanvallon versichert, Demokratie verwirkliche sich in der konkreten Ausübung, DemokratInnen entstünden in der Praxis. Aber letztlich vertraut er auf die Kraft des überzeugenden Arguments. Zudem wird Demokratie aufs politische Feld beschränkt; Wirtschaftsdemokratie kommt nicht mal als Stichwort vor. Verstehen lässt sich der Populismus nach Rosanvallons Buch besser, bekämpfen weiterhin nur unzulänglich.

Stefan Howald

Pierre Rosanvallon: «Das Jahrhundert des Populismus. Geschichte. Theorie. Kritik». Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Hamburger Edition, Hamburg 2020. 266 Seiten, 48 Franken.


Dieser Text erschien ursprünglich in der WOZ Nr. 2/21 vom 14.1.2021, siehe https://www.woz.ch/2102/populismustheorie/ich-bin-das-volk

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