Literatur auf losen Blättern – eine quantitative Betrachtung

Das gedruckte Buch führt seit längerem einen Abwehrkampf gegen die digitalen Bedrohungen. Besonders heroisch schlägt sich das Kritische Lexikon zur Gegenwartsliteratur (KLG). Es ist 1981 begonnen worden und will alle deutschsprachigen AutorInnen mit ihren Werken in mehr oder weniger umfangreichen Beiträgen vorstellen, samt Bibliografien von Primär- und Sekundärliteratur. Die Beiträge haben überwiegend hohe Qualität. Informativ werden die wichtigsten Werke der behandelten AutorInnen knapp referiert; zudem wird der Stellenwert von Werk und Autor in der zeitgenössischen Literaturszene beschrieben, und auch die ästhetischen Urteile sind zumeist plausibel.

Mittlerweile beinahe als ein Unikat, funktioniert das KLG als Abonnement und im Loseblattsystem. Das heisst, in kleine rote Ordner werden Blätter im Format A5 eingereiht, die im Lauf der Zeit ergänzt und gelegentlich auch ersetzt werden.

Das Unterfangen war zu Beginn attraktiv, weil es gegenüber dem ein für alle mal gedruckten Buchlexikon durch Nachträge aktualisiert werden konnte. Mittlerweile ist dieses Versprechen angesichts von digitalen Lexika zum Anachronismus geworden, insbesondere da das KLG seit einiger Zeit auch in einer digitalen Version benützt werden kann.

Und dennoch wird unverdrossen eine gedruckte Ausgabe ausgeliefert. Gegenwärtig umfasst das Lexikon fünfzehn Ordner mit geschätzt 15 000 zweiseitig bedruckten Blättern, was im Büchergestell mittlerweile gut einen Laufmeter ausmacht. Die Auflösung des Abonnements steht ausser Frage, da einen das Lexikon mittlerweile vierzig Jahre lang begleitet hat.

Deshalb erhält man alle vier bis sechs Monate von der trefflichen lokalen Buchhandlung eine Meldung, es sei eine neue Sendung eingetroffen. Die jeweils etwa 120 Blätter gilt es dann einzuordnen. Wenn man sich aufraffen könnte, das sofort nach Eintreffen zu machen, wäre es vielleicht nicht gar so aufwändig. Aber zuweilen geht die Sendung unter, wird auf die Seite gelegt, oder die Dringlichkeit oder die Lust fehlen, und plötzlich haben sich, wie doch die Zeit vergeht!, mehrere Sendungen angesammelt. Worauf das Einordnen schwieriger wird, da man nicht einfach mit der ersten Sendung beginnen kann, weil in einer späteren womöglich eine Ergänzung kommt, die die erste Sendung tangiert.

Ein müssiger Arbeitstag

Also legt man in einer müssigen Stunde die sechs Blätterhaufen vor sich hin, inklusive der sechs Anleitungen, wo die neuen Beiträge jeweils einzuordnen seien bzw. was zu ersetzen sei, und sucht in den sechs Bündeln die alphabetisch erste Änderung, ordnet die ein, streicht in der entsprechenden Anleitung den entsprechenden Eintrag, sucht dann durch die sechs Haufen hindurch den alphabetisch nächsten Eintrag, ordnet den ein, undsoweiter.

Schwieriger wird es, wenn die Redaktion berechnet hat – was sie zumeist zuverlässig tut –, dass der durch die jüngste Sendung erweiterte Umfang die vorhandenen Ordner sprengt, so dass ein neuer nachgeliefert wird: Denn dann verschiebt sich das ganze Gefüge, da zuerst, wenn ein neuer Autor mit dem Anfangsbuchstaben A geliefert wird, einer aus dem ersten Band in den zweiten Band verschoben werden muss, und wenn dann, sagen wir, zwei Autorinnen mit dem Anfangsbuchstaben B nachgeliefert werden, das zur Folge hat, dass, sagen wir, eine Autorin und zwei Autoren aus dem zweiten in den dritten Ordner verschoben werden, undsoweiter, bis der vierzehnte Ordner fast vollständig im fünfzehnten aufgeht; und all die gelochten Blätter müssen zuerst aus den Ordnern gehoben und dann wieder eingeordnet werden, wenn immer möglich ohne dass die Stanzlöcher eingerissen werden.

Ach so, und dann ist da noch das gleich funktionierende Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur (KLfG) mit bislang vierzehn – blauen – Ordnern.

Das wird dann schon eine Ganztagsarbeit, vor allem, wenn man auch noch gelegentlich einen Blick auf einzelne Beiträge wirft und realisiert, dass man nicht mehr so genau weiss, wer denn nun zur jüngsten Gegenwartsliteratur gehört, oder, durchaus chauvinistisch, abzuschätzen versucht, ob die schweizerische im Vergleich mit der österreichischen Literatur gebührend berücksichtigt wird.

Lang lebende Tote

Was aber gilt an schon vorhandenen Beiträgen als verändernswert beziehungsweise als verbesserungswürdig? Eine nicht ganz einsichtige Regel scheint zu besagen, dass verliehene Preise unabdingbar zur Wertschätzung eines Autors, einer Autorin beitragen, so dass gelegentlich ein so genanntes Ergänzungsblatt nachgeliefert wird, auf dem sich einzig verändert hat, dass Autor XY den Preis des Buchclubs YZ erhalten hat. Einsichtiger ist es, dass die Todesdaten nachgetragen werden. Das KLG reagiert da noch einigermassen schnell, normalerweise mit einjähriger, höchstens mit zweijähriger Verspätung. Beim KLfG aber leben die Toten gelegentlich noch recht lange nach ihrem Ableben weiter. Der Tod des dänischen Autors Klaus Rifbjergs vom 4. April 2015 ist ebenso wie derjenige des US-Amerikaners James Salter vom 19. Juni 2015 erst in der Nachlieferung vom März 2020 gemeldet worden. Überhaupt scheint diese Sendung jene gewesen zu sein, in der die meisten im vorangegangenen halben Jahrzehnt Gestorbenen ihre endliche Ruhe erhalten haben. In dieser Nachlieferung ist auch jener Nachtrag enthalten, der, Irrtum vorbehalten, bislang alle Rekorde geschlagen hat: Der, wohlverstanden, tolle, 29-seitige, noch aus dem letzten Jahrhundert stammende Artikel zum palästinensischen Dichter Mahmud Darwis ist nämlich im Jahr 2020 durch die Mitteilung von dessen Tod am 9. August 2008 ergänzt worden, also elfeinhalb Jahre nach dem einschneidenden Ereignis. Dafür erfährt man, dass der Tod unmittelbar nach der dritten Herzoperation erfolgte.

Warum nur Botho Strauss?

Für die intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk braucht es Platz. Gut so. Zuweilen fragt man sich allerdings, ob die Relationen gewahrt bleiben. Im KLG ist zum Beispiel jener Autor mit dem längsten Eintrag Botho Strauss, und zwar mit 58 Seiten. Ja, 58 Seiten. Brecht, der es gerade noch unter die zeitgenössischen Autoren geschafft hat, hat im Vergleich 28 Seiten gekriegt, Uwe Johnson 26 Seiten und Peter Weiss 10, schon beinahe ein Skandal. Günter Grass hat Heinrich Böll mit 32 zu 24 Seiten überflügelt, und im schweizerischen Titanenduell schwingt Friedrich Dürrenmatt mit 31 Seiten gegenüber Max Frisch mit 22 Seiten ebenso deutlich oben aus.

Solche quantitative Aufrechnungen sind der Literatur selbstverständlich vollkommen unangemessen. Dennoch sagen sie etwas über relative Wertschätzungen aus und bereiten daneben ein wenig boshaftes Vergnügen und etwas – zugegeben eher künstliche – Empörung. So nähert sich von den noch lebenden Schriftstellern der Vielschreiber Martin Walser mit 45 Seiten noch am ehesten Strauss an, und auch der Vielschreiber Peter Handke darf sich über 41, gegen Ende durchaus kritische, Seiten freuen oder sich vermutlich darüber erhaben fühlen. Dagegen nehmen sich Volker Braun mit 20 und Christoph Hein gar mit nur 12 Seiten eher bescheiden aus. Von den Schweizern hat Lukas Bärfuss, der schon als Nachfolger von Max Frisch als Grossintellektueller gehandelt wird, immerhin 16 Seiten gekriegt. Schon beinahe schockierend ist es allerdings, dass der gegenwärtig wohl zweit erfolgreichste Schweizer Autor, Charles Lewinsky, vollkommen fehlt.

So weit die Männer. Und die Frauen? Nun, die machen mittlerweile immerhin (immerhin!?) einen Viertel der rund 800 Einträge aus. Als Spitzenreiterin wird, Irrtum vorbehalten, Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek auf 32 Seiten abgehandelt. Brigitte Kronauer hat 24 Seiten erhalten, Christa Wolf muss sich mit 22 Seiten begnügen, Irmtraut Morgner mit 16 und Ingeborg Bachmann mit 15. Verglichen mit denen wirken die 19 Seiten zu Monika Maron ein wenig exzessiv.

Die Schweizerinnen lassen sich an drei Händen abzählen, oder beinahe: 16 sind es. Erika Burkart und Hanna Johansen (wenn wir sie denn zum Schweizer Kontingent hinzu zählen), dominieren mit 23 und 20 Seiten; danach sieht es düster aus, denn keine andere Autorin hat mehr als 14 Seiten zugewiesen erhalten – wenn sich Helen Meier mit 8 und Ruth Schweikert mit 6 Seiten begnügen müssen, wird eine deutsche Schlagseite sichtbar.

Diese Aufrechnungen sind ein wenig verzerrt, weil die noch Lebenden jede Chance haben, dass ihre Einträge künftig noch ergänzt und verlängert werden. Solche Ergänzungen erfolgen dann wiederum unterschiedlich schnell, zumeist innerhalb von drei, vier Jahren. Herta Müllers Werk verharrte allerdings elf Jahre lang, von 2009 bis 2020, auf dem gleichen Stand, und hat nun 20 Seiten erreicht. Sibylle Berg kriegt erst 11 Seiten zugewiesen, aber der Eintrag ist 2016 stehengeblieben – da kommt noch Einiges auf uns zu.

Doch da die Nachlieferungen nicht sogleich eingeordnet werden, spielt diese Beschaulichkeit keine grössere Rolle.

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