Musik und Literatur
Es war ein reichhaltiges Programm: eine Doppellesung samt Konzert. Klingende Worte von Caroline Arni und gleissende Klänge von Evelinn Trouble vereinigten sich kürzlich in Thun.
Der Ort war passend: das Mokka an der Allmendstrasse. Es entspricht seinem Mythos, ein verwunschener Ort der Populärkultur zu sein. Und zugleich ein europaweit gerühmtes Konzertlokal.
Das Team um Henry hat es vom legendären Bädu Anliker übernommen, führt es in dessen Geist und zugleich eigenständig weiter. Der Abend war aus dem «Projekt Schweiz» geboren, zwei Autorinnen präsentierten je ihr für dieses Buch geschriebene Porträt. Die Historikerin Caroline Arni stellte die Schriftstellerin Aline Valangin vor, die Musikerin Evelinn Trouble den Musikimpressario MC Bädu Anliker – das war natürlich ein Heimspiel.
Hier lässt sich der ganze Abend nachhören. Nach einer Einführung ins Buch spielt Evelinn Trouble ein erstes Stück, danach lesen Arni und Trouble, umrahmt von fünf weiteren Stücken von Evelinn Trouble.
Wenn man gar nicht Stadtpläne lesen kann, mag es passieren, dass man beim Bahnhof in die falsche, touristische Seite Thuns gerät und dann, den Irrtum bemerkt, womöglich auch noch im grossen Bogen die richtige Nummer des Mokka an der Allmendstrassse verpasst; aber immerhin, ein Plakatkleber in der Umgebung weist den halbwegs richtigen Weg, und dann kann sich ein nur Englisch sprechender junger Mann sogar zusammenreimen, was da gesucht wird, obwohl er das Lokal nicht aus eigener Anschauung kennt. Dafür ist der Empfang umso freundlicher. Man darf – man sollte nicht, aber darf – zwei, drei Stühle tragen helfen und die sorgsam gehegten Pflanzen bewundern, die eindrücklich gedeihen – so gross und mit so dickem Stamm kann eine Yucca werden, und doch findet sich im Topf noch ein wenig Platz für Kräuter. Die Räume auf drei Etagen sind alle voll, aber nicht vollgestellt. Platz hat es immer noch, gelegentlich auch für eine Bar. Der Billardtisch steht jetzt im zweiten Stock, während der Töggelikasten im Parterre vergesellschaftet worden ist. Der Eisbär, den Evelinn T. mal zur Empörung von Bädu verschieben wollte, reckt sich weiterhin auf der Bühne, neben dem Sofa, das aus dem Büro hinuntergeschleppt worden ist. Mutter und Tochter A. wetteifern um die richtigen Namen aller Star-Wars-Figuren (die Tochter gewinnt); die Lektüre von Dürrenmatts Besuch der Alten Dame im Halbdunkel will dagegen nicht ganz hinwegreissen, und darf man den hingepinselten Spruch «Musik ist Scheisse» mit der Verzweiflung interpretieren, die dem Kunstprozess innewohnt, bevor er dann ins strahlende, bewegende Resultat mündet?
Welche Sorgfalt beim Soundcheck, denkt der Laie, diese Aussteuerung und jene, und jeder Lautsprecher säuberlich gerichtet. Derweil schaukeln die Discokugeln beschaulich an der Decke, sogar Trockeneis wäre vorhanden; nur jener Fussball, der beim vormals letzten Konzert von Evelinn Trouble von der Decke gefallen ist, ist nicht wieder befestigt worden. Danach wird im ersten Stock zu Tische gebeten, es fehlt bloss der Essensaufzug, so dass der Koch eilfertig die Stiegen hoch- und hinuntersteigen muss. Das Mahl ist opulent, die Schüsseln finden kaum Platz, in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert, zum Beispiel, hiesse es jetzt, die Tischplatte habe sich unter all den Herrlichkeiten gebogen. Insbesondere Henry´s Chicorée-Auflauf sollte ins interne Kochbuch aufgenommen werden. Das erfreulich zahlreiche Publikum von nah und etwas ferner wartet geduldig: Kunst ist Aufopferung und muss als solche gewürdigt werden, samt Stimmprobe. Dann kann es losgehen. Die ganze Veranstaltung höre man oben.
Als Ergänzung folgt die Playlist von Evelinn Trouble:
1. Something on Your Mind (Karen Dalton)
2. Ring of Fire (June Carter)
3. Like Falcons (Evelinn Trouble)
4. Perfect Day (Lou Reed)
5. Sleep (Evelinn Trouble)
6. Unfamiliar Things (Evelinn Trouble)
Und die Angaben zu den aktuellen Kunstprodukten:
– Stefan Howald (Hrsg.): Projekt Schweiz. 44 Porträts aus Leidenschaft. Unionsverlag, Zürich 2021. 496 Seiten, 48 Franken.
– Caroline Arni: Lauter Frauen. Zwölf historische Porträts. Echtzeit Verlag, Zürich 2021. 192 Seiten, 36.90 Franken.
– Evelinn Trouble: Longing Fever. Zürich 2022. Vinyl/ CD/ Streaming, 15 – 25 Franken.