Vom Schatten im Augenwinkel der Gams

Zur Vernissage am 15. September von Jürgmeiers «Die Gams, sie lebt nicht im Frieden».

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Bücherfreundinnen und Bücherfreunde,

Ich möchte Sie ganz herzlich zu dieser Vernissage von Jürgmeiers neuem Buch «Die Gams, sie lebt nicht im Frieden» begrüssen. Mein Name ist Stefan Howald, und ich darf durch den heutigen Abend führen, der sicherlich eine schöne, anregende und unterhaltsame Sache werden wird.

Nun, es geht heute Abend in diesem schönen Raum im Wohnprojekt «Zusammen_h_alt» in Winterthur um Jürgmeier und sein neues Buch. Oder vielleicht doch vorrangig um das Buch von Jürgmeier und dann um ihn.

Dennoch sollte ich wohl ein paar Worte zu seiner Person sagen. Jürgmeier, 1951 geboren, war Berufsschullehrer, Erwachsenenbildner und Journalist, ist Essayist und Lyriker und Bildungsfachmann. Die Jugendbewegung und den Kampf gegen den Fichenstaat hat er schon 1981 in einem höchst erfolgreichen Buch dokumentiert, «Paranoia City oder Zürich ist überall». Er hat fürs Radio gearbeitet, insbesondere für die Satiresendung «Faktenordner», er hat als Dozent gewirkt, Gesprächsreihen moderiert. Früh hat er sich mit Männerbildern und Genderfragen herumgeschlagen und eine demokratisierte Bildung und das Lernen als Sache für alle befördert. An grösseren Veröffentlichungen erwähne ich nur «Der Mann, dem die Welt zu gross wurde» (2001), das 2002 erschienene Buch «Schwarzundweiss», eine grosse «literarische Reportage aus dem Kalten Krieg». Ich sollte einfügen, dass wir damals eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten, da ich die persönliche Position einer der darin vorkommenden Personen vertrat. Seither sich das Buch aber als eine wichtige, leider zu wenig benutzte Quelle für eine leider zu wenig aufgearbeitete Epoche der Schweiz erwiesen, nämlich des Kalten Kriegs. Aus seinem anderen Tätigkeitsfeld heraus verfasste er 2008 zusammen mit Helen Hürlimann den Band «Tatort, Fussball und andere Gendereien – Materialien zur Einübung des Genderblicks» sowie 2017, mit drei andern AutorInnen zusammen, das Bildungsprojekt «Lernen ist meine Sache. Schule als Ort des Lernens».

Nun also zum neusten Buch. Etliche der Texte darin sind ursprünglich auf dem Internetportal Infosperber erschienen, wo Jürgmeier jahrelang als Mitredaktor und Mitarbeiter tätig war. Sie sind aber für dieses Buch überarbeitet und neu zusammengestellt worden. Das verleiht ihnen eine grössere Kohärenz, eine entschiedenere Struktur, die Einzeltexte schliessen sich zu einem neuen fortlaufenden Panorama zusammen.

Als ich das Manuskript von Jürg gekriegt habe, hat mich sofort die Gämse fasziniert, die ihm während Wanderferien doch eher unerwartet begegnet ist. Ich unternehme zwar keine grossen Bergtouren wie Jürg, sondern begnüge mich mit Spaziergängen durch den lokalen Wald. Deshalb begegnen mir auch keine Gämsen, aber doch gelegentlich Rehe. Mein Verhältnis dazu ist allerdings sentimental; ihre vermeintliche Unschuld rührt mir ans Herz. Bei Jürg gilt das natürlich ebenfalls, doch er zeigt, was sich an den eindrücklichen Gämsen weiter ablesen lässt. Sentimentalität ist gut und schön, aber auch eine menschliche Projektion auf die Natur. Dagegen geht es nicht nur um einen abstrakten Umweltschutz, sondern um ganz konkretes menschliches Fühlen und Verhalten. Und Jürg denkt sich die Begegnung von beiden Seiten her: was sie uns bedeutet und was sie womöglich für die Gams bedeuten könnte.

Jürgmeiers Journal geht häufig vom Alltag aus, von vermeintlich einfachen Beobachtungen. Ist Ihnen zum Beispiel schon aufgefallen, dass Drohnen allermeist von Männern eingesetzt werden? Ich selbst hab das vielleicht mal im rechten Augenwinkel wahrgenommen, aber bei Jürg erfahre ich, was das in unserer und für unsere Gesellschaft bedeuten mag.

Zuerst sollte dieses Buch im Untertitel «Falländer Tagebuch» heissen. Wir haben uns dann darüber verständigt, dass das vielleicht ein wenig zu subjektiv wirkt. Deshalb ist jetzt daraus ein «Journal» geworden. Das mag einen leicht altertümlichen Anklang haben, im guten Sinn freilich. Das Journal bezieht sich meines Erachtens stärker auf die Umwelt, dokumentiert nicht so sehr das Ich, sondern das Ich in seinen gesellschaftlichen Beziehungen. Der Akzent der Betrachtungen verschiebt sich. Das vorliegende Buch ist freilich nicht ein beliebiges Journal, sondern es ist das «Fällander Journal». Das hat zu Beginn eine gewisse ironische Fallhöhe: Gibt Fällanden ein Journal her? Aber Fällanden bezeichnet zuerst einmal ganz praktisch den Standort von Jürgmeier, ganz nach dem Motto: Schreibe, wo du stehst. Darüber hinaus bezeichnet es auch seinen Standpunkt, nicht vom Zentrum (der Macht) her, sondern von der Peripherie, sagen wir mal: von links unten.

Dieser Standpunkt ist immer differenziert. Jürg beschäftigt sich zum Beispiel mit unseren Gefühlen gegenüber Wohltätigkeit, oder er schreibt über unterschiedliche Formen des Engagements im Angesicht der Klimakrise. Widersprüche werden nicht übertüncht, sondern auseinander gelegt, umn sie aushaltbar, lebbar zu machen.

Das Journal reicht bis in die Anfänge von Corona hinein, was ja vieles verändert hat. Jürg gelingt eine anrührende, auch empörende Erzählung, in welche Zwangssituationen etwa das Pflegepersonal dadurch geraten ist.

Das ist tatsächlich ein zentrales Merkmal dieses Buchs: Es enthält zwanglos Erzählungen neben Reflexionen, Beobachtungen neben Analysen, auch Gedichte. Wobei das «Neben» falsch ist, es ist gerade kein Nebeneinander, sondern ein Ineinander. Die Formen entspringen auseinander, entwickeln sich gegenseitig aneinander.

Ich erlaube mir, noch kurz etwas zum Verlag zu sagen, in dem das Buch erschienen ist, zur edition 8. Es wird Sie in unserem Rahmen kaum erstaunen, dass es sich dabei um eine Genossenschaft handelt. Diese besteht aus einem schon beinahe verschworenen Team von gegenwärtig sechs Leuten, die das allermeiste in Gratisarbeit erschaffen. Ich gestehe, dass ich Partei bin, da ich als Präsident der Genossenschaft amte, eher formal, ohne viel zum Gelingen des Verlags beizutragen. Aber ich darf doch sagen, die edition 8 macht schöne Bücher, in unverwechselbarer Handschrift, und das jetzt zur Taufe gebrachte Buch von Jürgmeier ist besonders schön, geradezu gediegen gelungen.

Zum Schluss gilt es noch, Dank abzustatten. Organisiert worden ist diese Vernissage gemeinsam von der edition 8 und der Buchhandlung Buch am Platz, die beste Adresse in Winterthur für Bücher aller Arten. Dank gilt auch Peter Hainoczky, der uns im Haus «Zusammen_h_alt» Gastrecht gewährt hat. Dank zudem an Immanuel Witschi, der diese Buchvernissage mit seinen perlenden Klavierläufen umrahmt. Und herzlichen Dank an Sie, die Sie sicherlich gebannt zuhören und mit und nach dem Apéro dieses anregende Buch von Jürgmeier kaufen werden.

Jürgmeier: Die Gams, sie lebt nicht im Frieden. Fällander Journal 2016-2020. edition 8, Zürich 2022. 200 Seiten, 24 Franken.

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