Die Verantwortung der Intellektuellen: Zwei aktuelle Produktionen beschäftigen sich damit. Einerseits «Der vermessene Mensch», ein brandneuer Film des deutschen Regisseurs Lars Kraume. Andererseits «Good», ein Theaterstück des schottischen Autors C. P. Taylor. Sie könnten unterschiedlicher nicht sein. Der Film, der über den deutschen Völkermord an den Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 in Südwestafrika handelt, ist ein erstaunliches Desaster. Das schon etwas ältere, aber soeben neu inszenierte Theaterstück über eine Verwicklung in den mörderischen Holocaust ist erhellend und aufwühlend.
«Der vermessene Mensch» stellt einen deutschen Völkerkundler namens Alexander Hoffmann in den Mittelpunkt. Um die Wende zum 20. Jahrhundert soll er, wie es die damals vorherrschende Phrenologie behauptet, anhand von Schädelmerkmalen die geistige, sittliche Überlegenheit der «weissen Rasse» belegen helfen. Ursprünglich aus genuinem ethnologischem Interesse, aber auch zur Karriereförderung schliesst er sich einer Forschungsreise in die Kolonie Deutsch-Südwestafrika an. Dort wird er allmählich zum Komplizen der rassistischen deutschen Kolonialpolitik, die schliesslich in den Genozid an den Herero und Nama mündet.
Der Film will zur überfälligen Aufarbeitung der deutschen Kolonialverbrechen beitragen. So ist er höchst aktuell. Ein Abkommen zwischen Deutschland und Namibia über eine Entschuldigung und Reparationen für die Menschenrechtsverbrechen ist gegenwärtig blockiert, weil Herero-VertreterInnen der namibischen Regierung die Berechtigung für einen solchen Vertrag absprechen und Neuverhandlungen fordern. In diesem Kontext ist scharf kritisiert worden, dass in einem Film über den Genozid an der Schwarzen Bevölkerung die Schuldgefühle eines Weissen im Mittelpunkt stehen und dass gegenüber siebzehn Weissen Figuren nur eine einzige Schwarze Figur eine tragende Rolle spielt.
Die Kritik ist im grösseren Zusammenhang der Diskussion um die deutsche Kolonialherrschaft berechtigt. Andererseits ist im Einzelfall das Thema der psychischen, moralischen Verfassung der Mitläufer oder Täter durchaus legitim. Leider findet der Film dafür keinerlei adäquate Mittel. Zumeist begnügt er sich mit Andeutungen, lässt Motivierung und Entwicklung der Hauptfigur im Vagen.
Mit einer Fotografie durch Afrika
Im Schnelldurchlauf werden zu Beginn einige Motive angedeutet: Hoffmanns Vater als übermächtiges Vorbild, eine Mutter, die den sozialen Abstieg der Familie durch eine Verheiratung ihres Sohns mit einer «guten Partie» kompensieren möchte. Dann, 1896, trifft anlässlich der Berliner «Völkerschau» eine Gruppe von Herero in Berlin ein, die sich eine Audienz beim deutschen Kaiser erhoffen; zugleich werden sie im Völkerkundeinstitut phrenologischen Studien am lebendigen Menschen ausgesetzt. Hoffmann verliebt sich sogleich in die Schwarze Dolmetscherin Kezia Kambazembi; in einer Vorlesung an der Universität versucht er an ihrem Beispiel, die Ebenbürtigkeit von Schwarz und Weiss zu belegen, nur um Kezia und sich dem Gespött auszusetzen. Angesichts einer ins Stocken geratetenen Karriere nimmt er 1904 an einer Forschungsreise nach «Deutsch-Südwestafrika» teil, in der Obhut und unter Aufsicht der deutschen «Schutztruppe». Dabei trägt er eine Fotografie von Kezia mit sich, die er während der ganzen Reise herumzeigt, um seine erste Liebe zu finden. Zu Beginn hält Hoffmann sein ethnologisches ebenso wie sein moralisches Ethos aufrecht und versucht, eine von deutschen Militärs umzingelte Herero-Gruppe zu warnen. Er kommt aber zu spät und sieht dem brutalen deutschen Überfall ohnmächtig zu. Eher unglaubwürdig aus dieser kompromittierenden Situation gerettet, da er doch kriegsrechtlich bestraft werden könnte, vergräbt er sich immer mehr in die Aufgabe, möglichst viele Herero-Schädel nach Deutschland zu liefern, wo sie nicht nur pseudo-wissenschaftlich ausgewertet werden, sondern auch zum privaten Sammelobjekt werden.
Diese Konstellation wirft überlegenswerte Fragen auf: wie die Zusammenarbeit zwischen Militär und «Wissenschaft» zustande kommt und funktioniert; warum die Gier des Forschers und Sammlers sich über alle moralischen Bedenken hinwegsetzt, bis hin zur Grabschändung. Überall speist der Film leider mit Versatzstücken ab. Dagegen hilft auch der Hauptdarsteller Leonard Scheicher nicht, dessen Hoffmann mit dem immer gleichen treuherzig verwunderten Blick durch die Weltgeschichte stolpert.
«Der vermessene Mensch» handelt von grauenhaften Menschenrechtsverbrechen, und ist doch erstaunlich klinisch sauber. Die Schädel, die Hoffmann einsammelt und nach Berlin schickt, sind alle schön ausgebleicht; die Arbeitslager, in denen die Einheimischen eingesperrt sind, nicht gerade Ferienlager, aber auch nicht gerade erschreckend wie in der Realität. Eine starke Szene, immerhin, gelingt gegen Schluss. Da wird gezeigt, wie im Arbeits- oder Konzentrationslager Frauen die Schädel von kürzlich Gestorbenen, vermutlich auch von Deutschen Getöteten reinigen müssen. Doch als Hoffmann die so lange gesuchte Kezia bei dieser entmenschlichenden Tätigkeit findet, flüchtet er verstört und feige. Dass dieser grundsätzlich missglückte Film sich auf den Roman «Morenga» von Uwe Timm abstützen soll, der 1978 einen damals bahnbrechenden, auch formal spannenden Text über die deutschen Menschenrechtsverbrechen in Südwestafrika vorgelegt hat, bleibt unverständlich.
Die Defizite von «Der vermessende Mensch» werden noch deutlicher im Vergleich mit dem Stück «Good» des schottischen Autors C. P. Taylor. Taylor (1929-1981) schrieb in den 1960er- und 1970er-Jahren in hektischer Betriebsamkeit und in Zusammenarbeit mit lokalen Theatern, Amateurtruppen sowie Jugendgruppen knapp achtzig Stücke; seit dem frühen Tod hat er in Britannien eine gewisse Bekanntheit behalten und wird immer wieder als Geheimtipp herumgeboten. Sein bekanntestes Stück «Good» erschien 1981 kurz vor seinem Tod. Kürzlich ist es in London wieder aufgenommen worden, mit dem bekannten Film- und Theaterstar David Tennant in der Hauptrolle.
Dass Taylor sich als Schotte mit dem Holocaust auseinandersetzte, liegt in seinen jüdischen Vorfahren begründet. Die Stückanlage ist ähnlich wie die des Films. Der Literaturwissenschaftler Halder biedert sich aus Karrieregründen Anfang der 1930er-Jahre bei den Nazis an, ordnet sich nach deren Machtübernahme in den ideologischen Apparat ein und steigt schliesslich bis zum Verbindungsoffizier in Auschwitz auf.
Vom Opportunismus zum verbrecherischen Zynismus
Die Etappen dieser Entwicklung werden präzise nachgezeichnet. Halders bester Freund ist ein jüdischer Arzt, dem er seine Entscheidungen jeweils plausibel zu machen versucht. Der Eintritt in die Partei sei rein opportunistisch, versichert er dem Freund, an die Rassenideologie glaube doch niemand wirklich, das sei nur ein vorübergehendes Propagandamittel. Dem eigenen Opportunismus soll so derjenige der Nazis entsprechen. In einem früher geschriebenen Roman hatte Halder, aufgrund der Erfahrungen mit seiner dementen Mutter, in Rollenprosa die Euthanasie thematisiert. Darauf wird er von einem – dem realen SS-Obergruppenführer Philipp Bouhler nachgebildeten – Nazi-Funktionär darauf angesprochen, ob er nicht sein Wissen in eine entsprechende Politik der neuen Regierung einbringen könne. Anfänglich beunruhigt von der eindeutigen Auslegung seines Buchs schmeichelt Halder die offizielle Aufmerksamkeit, und so lässt er sich einreden, er könne zu einer humanitären Durchführung eines Euthanasieprogramms beitragen. Die Bücherverbrennungen 1933 schockieren ihn zuerst, aber so wie eine Nazi-Verbindungsmajorin sich trotz öffentlicher Verfemung der «Negermusik» eine Sammlung von Jazzschallplatten hält, so beruhigt auch er sich mit der Versicherung, privat könne er die verfemten Bücher ja behalten und weiter lesen. Die Verfertigung solcher Rechtfertigung wird glänzend in einer Rede Halders an der Universität vorgeführt. Ganz ohne Qualitäten sei die verbotene Literatur nicht, räumt er sich und seinen Studierenden ein, aber sie lenke mit ihrem psychologisierenden Zerfasern und ihrem ästhetisierenden Verfeinern doch in eine falsche Richtung, zersetze die deutsche Lebenskraft und schwäche die deutsche Nation. Allmählich wird Halder eine Art Kulturreferent fürs Humanitäre, wobei sich seine Argumente verfeinern und zugleich vergröbern müssen. Die Kristallnacht und die direkten Angriffe auf Jüd:innen in den Novemberpogromen 1938 seien, erklärt er, Auswüchse einer noch jungen Bewegung, sozusagen deren pubertäres Abreagieren, wie es nun halt mal in der Natur einer solchen Bewegung liege. Dem Freund kann er, das müsse dieser doch einsehen, nicht mehr helfen; ja, er macht ihm den Vorwurf, warum er überhaupt in Deutschland geblieben sei, da er doch um die kommenden Gefahren gewusst habe. Zum Schluss sind dann die Juden selbst schuld an dem, was ihnen zustösst. Natürlich nicht so plump aufgrund einer Verschwörungstheorie über den jüdischen Drang zur Weltherrschaft, sondern weil sie durch ihre blosse Existenz auch den differenzierter Denkenden das einfache Schema von deutsch/jüdisch, kraftvoll/dekadent, gut/böse aufdrängten. Ja, versichert Halder sich und seiner Geliebten, einer ehemaligen Studentin, durch die er seine schwermütige Frau ersetzt hat: Sie seien «gute» Menschen, die in einer bösen Welt leben müssen. Die «Realität» wird zum letzten Argument. Die Welt ist so, wie sie ist, selbst die KZs sind so, wie sie sind. Der als macht- und alternativlos verkaufte Zynismus entschuldigt auch die eigenen Verantwortlichkeiten und Verbrechen.
Aktuell und aktualisierend
Gespielt wird das von David Tennant prägnant und präzis. Tics, die er zuweilen in erfolgreichen Fernsehrollen pflegt, hat er auf dem Theater ganz abgelegt. Um ihn herum eine Schauspielerin und ein Schauspieler in mehrfachen Rollen, die zuweilen blitzschnell wechseln – vom jüdischen Freund zum Nazi-Offizier, von der Mutter zur Frau zur Geliebten zur Nazi-Majorin. Sie geben ein breites soziales und politisches Umfeld vor, in dem gezeigt wird, wie ein Einzelner sich verändern und umbauen kann.
In einem langen Text in der «New York Review of Books» (Nr. 8, Mai 2023) bürdet die Psychoanalytikerin Jacqueline Rose «Good» noch weit mehr an prognostischer Kraft auf: von der aktuellen unmenschlichen Flüchtlingspolitik in verschiedenen westlichen Ländern über den Versuch der britischen Regierung, die Justiz zugunsten politischer Entscheidungen zurückzustutzen, bis zur Verflachung der Universitätsbildung durch den Abbau moralischer Kompetenzen. So weit aktualisieren muss man das Stück nicht. Es veranschaulicht auf jeden Fall eindrücklich, wie ein menschenverachtender Ideologe entsteht.
Stefan Howald