bücherräumereien XLVI
Man kann aus der Distanz nicht ganz alle politischen Winkelzüge und psychologischen Feinheiten verstehen, aber es handelt sich um eine Marginalie zu einer doch nicht ganz unwichtigen Episode der Schweizer Politik: die Debatte um die erstmalige Bundesratsbeteiligung der Sozialdemokratischen Partei Anfang des Zweiten Weltkriegs.
In der Politisch-philosophischen Bibliothek im bücherraum f liegen dazu vier Briefe aus dem Februar 1940 vor, einer im Original, samt Maschinendurchschlag, von SP-Nationalrat Robert Grimm an SP-Nationalrat Hans Oprecht, dazu die Maschinendurchschläge der Antwort von Oprecht an Grimm, mit einem beigelegten Brief an Walter Stucki, Schweizer Gesandter in Paris, sowie dessen ebenfalls beigelegter Antwort an Oprecht, offenbar das Original, wie es Oprecht erhalten hatte.
In dem weltpolitisch belasteten Jahr 1940 mussten in der Schweiz etappenweise nicht weniger als vier Bundesräte ersetzt werden. Am 23. Januar war Aussenminister Giuseppe Motta gestorben, und auf den 22. Februar war eine Ersatzwahl angesetzt. Am Richtungsparteitag 1936 hatte sich die SP nicht nur von der «Diktatur des Proletariats» verabschiedet, sondern im Rahmen einer Art Volksfrontpolitik durch die Annäherung an linksliberale Kräften auch die Aufrüstung der Armee befürwortet und sich für die Beteiligung am Bundesrat ausgesprochen, wobei sie auch gleich einen entsprechenden Anspruch anmeldete, der 1940 erneut aktuell wurde.
Angesichts des begonnenen Zweiten Weltkriegs zeigten sich unterschiedliche politische Kreise Ende 1939 unzufrieden, ja besorgt über die Situation im Wirtschaftsdepartement, unter anderm auch wegen der krankheitsbedingten Abwesenheit des damaligen Departementsvorstehers Hermann Obrecht (FDP). Die SP sah in der faktischen Leerstelle eine Chance und eine Aufgabe. Mitte Januar unterrichtete SP-Präsident Hans Oprecht seinen Fraktionsvorsitzenden Robert Grimm darüber, dass er kürzlich bei einem Treffen in Paris mit dem hochangesehenen dortigen Gesandten Walter Stucki beiläufig auch über die anstehenden Vakanzen im Bundesrat gesprochen habe. Am 4. Februar schreibt nun Grimm im ersten vorliegenden Brief an Oprecht, ihm sei zu Ohren gekommen, und zwar von FDP-Bundesrat Ernst Wetter, dass Oprecht in Paris versucht habe, Stucki als parteiunabhängigen Kandidaten für eine allfällige Vakanz im Bundesrat zu gewinnen, weil die SP zur Zeit nicht über genügend gute Kandidaten verfüge, und dabei habe er sich auf Beschlüsse von SP-Parteigremien berufen. Jetzt möchte Grimm vom «Genossen Oprecht» wissen, was es mit diesem «sinnenfälligen» Widerspruch zwischen den beiden Versionen auf sich habe.
In seiner Antwort an den «Genossen Grimm» beklagt Oprecht zuerst das Vorgehen von Grimm, der die Sache bereits in Parteigremien getragen habe, ohne mit ihm das Gespräch zu suchen, was nicht in «Übereinstimmung mit meiner Dir gegenüber bisher geübten loyalen Einstellung» stehe und den Eindruck erwecken könnte, bei Oprechts Vorgehen handle es sich um eine «Intrige». Tatsächlich war die Beziehung zwischen den beiden gespannt, weil der Zürcher Oprecht 1936 den Berner Grimm im SP-Parteivorstand abgelöst hatte. Jetzt, 1940, geht es vorerst einmal politisch um die Frage, inwiefern Oprecht mit seinem unverbindlich-verbindlichen Pariser Gespräch die Position der SP, mit einer eigenen Kandidatur antreten zu wollen, unterlaufen und in wessen Namen er gesprochen habe. Darin steckt auch die aufs Persönliche zielende Frage, ob die Bemerkung, die SP verfüge nicht über genügend qualifizierte Leute, auf jemand besonderer gemünzt war, wie etwa den damals zweifellos prominentesten Schweizer Sozialdemokraten.
Auf Grimms Vorhaltung schreibt Oprecht sogleich an Stucki und rekapituliert das Gespräch mit diesem aus seiner Sicht. Er habe tatsächlich aus Besorgnis über das Vakuum im Volkswirtschaftsdepartement und nach Aussprache mit verschiedenen «an hervorragender Stelle stehenden Menschen» Stucki eine Bundesratskandidatur anempfohlen, hält aber fest: «ich wüsste nicht, wie ich dazu kommen sollte, Sie, sehr geehrter Herr Minister im Auftrage einer kleinen sozialdemokratischen Vertrauensmännerkonferenz um die Annahme einer Kandidatur als Bundesrat zu ersuchen und das gar noch mit der Begründung, die S.P.S. verfüge zur Zeit nicht über geeignete Kandidaten.» Um die Sache aufzuklären, bittet er Minister Stucki, seine, Oprechts, Darstellung zu bestätigen, was dieser formell, mit einer nicht ganz unbedeutenden Korrektur tut. Was nun wiederum die Frage aufwirft, inwiefern Grimm die Aussagen von Bundesrat Wetter missverstanden oder dieser mit seinen Bemerkungen gegenüber Robert Grimm irgendwelche politischen Spiele angezettelt hatte.
In der Sache hatte sich Oprecht mit dem Vorschlag einer parteiunabhängigen, gleichsam technokratischen, Kandidatur tatsächlich weit vorgewagt. Pikant war zudem, dass der Karrierediplomat Stucki – wiewohl liberales – FDP-Mitglied war und auch schon, wie er, zurückhaltend eitel schrieb, von Dr. Laur (der damalige Bauernsekretär) in der gleichen Sache angefragt worden sei. Er müsse allerdings ablehnen, aus verfassungsmässigen Gründen, wobei der Zwischenfall ihn nur in der Meinung bestärke, «der politischen Küche fern zu bleiben».
Jedenfalls kommt es am 22. Februar zur Ersatzwahl für den verstorbenen Giuseppe Motta, bei der die Sozialdemokraten mit Guglielmo Canevascini antreten, der entsprechend der damaligen Grösse der SP-Fraktion bloss 53 bzw. 50 Stimmen erhält. In den späteren Ersatzwahlen im gleichen Jahr bleiben die jeweiligen SP-Kandidaten Gustav Wenk, Robert Bratschi und Johannes Huber mit der etwa gleichen Stimmenzahl ebenso chancenlos.
Erst 1943, als der FDP-Vertreter Ernst Wetter nicht mehr antritt, wird dann als erster SP-Bundesrat der gemässigte Ernst Nobs, Volksrecht-Redaktor, gewählt. Robert Grimm hat sich da längst anderweitig als Leiter der Amtsstelle «Kraft und Wärme» im eidgenössischen «Kriegsindustrie- und Arbeitsamt» um die Versorgung der Bevölkerung mit Energie unentbehrlich gemacht.
Stefan Howald