Die Gruft, der Friede und ein paar Pfützen

Im bücherraum f liegt seit kurzem «Der lustige Schweizer» vor, eine Broschüre enthaltend den «alten und neuen Kalender auf das Jahr 1805». Schon auf der Titelseite wird ein längerer Bericht über den berüchtigten Räuber Schinderhannes angekündigt, und tatsächlich werden dessen Taten im Inneren ausführlich beschrieben. Um Johannes Bückler (1779-1803), genannt der Schinderhannes, rankten sich schon zu Lebzeiten etliche Legenden: War er ein ruchloser Raubmörder, oder einer, der nur von den Reichen stahl und die Armen und Bauern zumindest in Ruhe liess? Der Artikel im «Lustigen Schweizer» hält erstaunlicherweise die Mitte zwischen den beiden Ansichten, weil er Schinderhannes Fähigkeiten zubilligt, die sich auch zum Guten hätten wenden können, beispielsweise als Soldat, wo, liesse sich von heute aus anfügen, seine kriminelle Energie vermutlich staatlich sanktioniert worden wäre. Im «Lustigen Schweizer» wird nach der sensationsträchtigen Darstellung von Taten und Hinrichtung des Schinderhannes zudem die Meinung eines «Menschenfreunds» wiedergegeben, der vor allem für die ebenfalls hingerichteten neunzehn Mitglieder der Schinderhannes-Bande tatsächlich menschenfreundliche Worte findet: Sie seien nämlich Resultat des «Mangelhaften unserer gesellschaftlichen Verfassung», durch Krieg und Armut. Und er schliesst mit einer aufklärerischen Botschaft: «Der Mensch ist das, was er ist, durch Erziehung, Unterricht und Beispiel, beides ersteres fehlte ihnen [den Räubern], und die Handlungen verheerender Soldaten waren ihnen kein edles Muster.»

Nun hat sich auch Georg Büchner beiläufig mit dem Schinderhannes beschäftigt. Dem Studienkollegen Heinrich Ferber schreibt er am 3. September 1835 in dessen Stammbuch eine Strophe aus einem damals weit verbreiteten Schinderhannes-Lied:

«Die da liegen in der Erden
Von de Würm gefresse werden,
Besser hangen in der Luft,
Als verfaulen in der Gruft.»

Die gleichen Worte kommen auch in der zweiten Szene von «Dantons Tod» vor, und zwar, anachronistisch oder anatopistisch, gesungen von einer Gruppe von Sansculotten. Büchners Sozialkritik äussert sich hier untergründig, rebellisch, in einem geradezu existenzialistischen, auch ein wenig melancholisch-fatalistischen Modus, den wir vom Linksbüchnerianismus aus allerdings nicht als durchgängige Haltung Büchners anerkennen.

Verfaulen in der Gruft, das will man Büchner denn doch nicht zumuten. Deshalb wird alljährlich am 17. Oktober in Zürich beim Büchner-Denkmal am Rigiblick seines Geburtstags gedacht. Der initiative Peter Brunner und seine Frau Swantje Brunner kommen jeweils vom Büchnerhaus in Riedstadt-Goddelau und legen einen Kranz nieder. Brunner führt neben dem Büchnerhaus auch den wunderbaren Blog Neues aus Büchnerland. Vom Linksbüchnerianismus lassen wir uns die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, unseren bescheidenen Beitrag zu leisten.

(von rechts) Daniel Rohr, Markus Bürgi, Peter Brunner, Stefan Howald, Foto: Swantje Brunner

Melancholisch könnte man allerdings einen Titel in der WOZ Die Wochenzeitung in Zürich auffassen, die in ihrer Ausgabe vom 31. Oktober «Friede den Mieter:innen» über einen Kommentar zu den beiden eidgenössischen Mietrechtsvorlagen setzt, die nächstens zur Abstimmung kommen.

Nun darf man wohl, bei der Bildung und Neigung der Abschlussredaktion, darin eine Anspielung auf das Motto von Georg Büchners und Ludwig Weidigs revolutionärer Flugschrift «Hessischer Landbote» von 1834 sehen.

Allerdings werden der Bezug und die Aussage nicht so ganz klar. Der Artikel meint, das Referendum sei schon recht, aber mehr aus taktischen Gründen, da die beiden Vorlagen nicht gar so schlimm seien, beziehungsweise man die schon jetzt schlimmen Zustände anders, grundsätzlicher ändern müsste. Der «Friede den Mieter:innen» wäre dann ein Scheinfrieden, gar ein falsch besänftigender. Tatsächlich lautet ja Büchners Motto «Friede den Hütten! Krieg den Palästen!» Wobei die WOZ denn doch nicht zu letzterem aufruft.

Immer wieder erstaunlich ist es, welche neuen Zugänge und Themen die germanistische Wissenschaft zu Büchner findet. So wird Mitte November eine Konferenz über «Büchners Elemente» durchgeführt. Diese «Elemente» sollen beinahe naturphilosophisch aufgefasst werden. Die Vorträge tragen Titel wie: «Böden und melancholische Metamorphosen», «Punkt, Linien, Fläche, Ebene: Zur Raumskalierung im Lenz» oder «Pfützen, Teiche, Löcher. Urbane Elementarorte und der Zerfall des Naturrechts». Nun wissen wir spätestens seit Bruno Latour wieder, wie alles in dieser einen Welt zusammenhängt und damit auch politisch ist. Tatsächlich nimmt sich ein Vortrag an der Tagung des Themas frontal an: «Woyzeck im Kontext der politischen Ökologie und des ‹Intersectional Environmentalism». Immerhin möchten wir darauf hinweisen, dass unser Blumenstrauss am Rigiblick durchaus intersektionell gedacht war, mit rot, grün, rosa. Jedenfalls werden wir vom Linksbüchnerianismus aus scharf beobachten, ob hier das Anachronistische sich in ein neues Gewand kleidet oder sich umgekehrt das Politische verflüchtigt.

Übrigens ist im bücherraum f neben dem «Lustigen Schweizer» auch der «Vaterländische Pilger» in der Schweiz eingetroffen, ein «nützliches Unterhaltungsbuch und Hauskalender für das Jahr 1837», geweiht allen «Freunden der Kultur, der Natur und des Vaterlandes». In der Jahreschronik werden für 1836, also jenes Jahr, in dem Büchner, allerdings erst im Oktober, in Zürich eintraf, allerlei Feuersbrünste verzeichnet, am 1. März war der Zürichsee bis nach Stäfa zugefroren und «um Zürich der beste Schlittweg». Danach taute es, worauf sogleich wieder viel Schnee fiel und der Hagel die ersten Saaten zerschlug: «es war ein trauriger Frühling». Abschliessend vermerkt der Pilger, dass man im «Dampfzeitalter» angelangt sei. In allen deutschen Fürstentümern würden Dampfbahnen geplant, auch in Zürich, die dann allerdings noch ein paar Jahre auf sich warten liess. Eher bukolisch sucht in einer hübsch gereimten langen Eloge auf den gütigen Bischof Fénelon (1651-1715) dieser eine «niedere Hütte» auf, wo die Armut herrscht, um durch eine Tat, die zu umständlich ist, um hier erzählt zu werden, den dortigen Bauern als Wohltäter erscheint. Vom «Krieg den Palästen» vermeldet der vaterländische Pilger verständlicherweise nichts; zudem wird Büchner gar nicht erwähnt, da er leider am 19. Februar 1837 nach Redaktionsschluss des Kalenders in Zürich an Typhus verstorben ist.

Stefan Howald

 

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