Was wir lesen (sollten)

Kürzlich weilten die SWIPS, die Swiss Independent Publishers, für ihre Generalversammlung bei uns im bücherrraum f, und als Gastgeschenk brachten sie einen Leseblütenstrauss jüngerer Bücher mit. Was uns und Euch zum Lesen verführen sollte: sechzehn Bücher, aus einem vagen Gefühl der Fairness heraus alphabetisch nach Verlagen geordnet.

Beginnen wir mit einem Kunstband, Jean Tinguely in sechzehn Etappen, und sogleich aus speziellem, aktuellem Interesse ins Auge gestochen: „Le Transport“, der Skulpturenzug von Tinguely im Mai 1960, von Peter Weiss in seinen „Notizbüchern“ beschrieben, als „geräuschvoller Aufruhr“ einer „revolutionären Haltung verwandt“, und dazu eine Fotografie von Joakim Strömholm, die Tinguely zeigt, wie er aus einem Gefangenenwagen der Pariser Flics blickt, die ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet hatten, da Kunst also in doppeltem Sinn mit den guten Sitten zusammengestossen ist.

Dominik Müller: Jean Tinguely: Motor der Kunst. Christoph Merian Verlag, Basel 2015. Gebunden, 208 Seiten.

 

Die Website von Alexandre Lecoultre öffnet sich mit einer sehr schönen Schwarzweissfotografie, und sparsam grafisch ist das Titelblatt dieses Buchs von ihm gestaltet. Schräg geht es dagegen im Innern zu und her, mit Peter, der so ein bisschen durchs Leben flaniert und durch eine Sprache, die sich, passend zur edition spoken script,  aus verschiedenen Dia- und Soziolekten zusammensetzt, so dass die Übersetzung umso wichtiger wird, was wieder einmal deren Bedeutung als Kulturgut hervorhebt, in einer Zeit, in dem die Schweizer Kulturpolitik dort Abstriche macht.

Alexandre Lecoultre: Peter und so weiter. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Ruth Gantert. Edition spoken word 49. Der gesunde Menschenversand, Luzern 2024. Broschur, 164 Seiten.

 

Man könnte über eine Namensverwandtschaft mit einer nicht ganz unbekannten Zürcher Politikerin sinnieren, aber das lassen wir an dieser Stelle und konzentrieren uns statt dessen auf das Buch von Pedro Badrán. „Horacio war nicht nur mein bester Freund, er war auch mein Lehrer und Komplize“, sagt der Ich-Erzähler, nachdem dieser Horacio tot im Spital eingeliefert wird, wo der Erzähler als Arzt arbeitet. Dieser beginnt einen Bericht, der zu diesem Buch wird, „um Horacio vor dem Vergessen zu bewahren“. Was in politische Intrigen führt, zu einem mächtigen Senator in der Provinz, der dann auch stirbt, nicht so gewaltsam wie Horacio, wobei vieles offen bleibt, denn die kolumbianische Gesellschaft ist zerrüttet, und alle sind in schmerzhafte Entscheidungen hineingezogen.

Pedro Badrán: Verbrechen in der Provinz. Auch ein Kriminalroman. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Richard Gross. edition 8, Zürich 2024. Gebunden, 178 Seiten.

 

Diese Essays schielen zu Erzählungen hinüber, was Essays ja können (aber nicht müssen). Aus wiederum aktuellen Anlass eines Seminars zum Thema Schweiz Postkolonial den Text „Lichtbilder“ gelesen, der über einstige Diavorträge von Missionaren (ohne grosses I, aber vielleicht mit einem Gender-*?) handelt, mit freundlich lächelnden Missionsschülerinnen, Frauen im Bastrock und dem „Kässeli“, das hier ein wenig verschämt umschrieben wird. Manches in diesen Texten von 2016 bis 2024 stammt aus einer Jugend, autobiografisch fundiert, und es kommen etliche Tiere vor, die uns begleiten, uns ans Herz rühren, und wir ihnen.

Tabea Steiner: Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat. Essays. edition bücherlese. Luzern 2024. Gebunden, 144 Seiten.

 

Natürlich, was wäre der Alltag ohne Krimis. Und was wären Krimis ohne die Polaritäten der Fahnder*innen. Kommissar Blum hat in seinem Büro Poster der Comic-Figuren Tim und Kapitän Haddock (Struppi sucht gerade einen Knochen), während sein impliziter Konkurrent Weber sein eigenes Genom als zwei Meter langes Kunstwerk an die Wand gepinnt hat. Nicht ganz erwartet findet sich dann unser Kommissar Blum, der weniger auf neue Statistiken und Algorithmen als auf seine Intuition vertraut, am 1. Mai auf dem Kasernenareal in Z. und kriegt eins mit einer Fahrradkette übergezogen; den Todesfall beim Atomkraftwerk, das nicht genannt wird und nicht identifiziert werden soll, löst er dann trotzdem, wobei er auch was über Tarifverhandlungen der Gewerkschaft Syndica auf dem Bau lernt.

Christof Burkard: Starkstrom. Kriminalroman. Edition Maulhelden, Zürich 2024. Gebunden, 206 Seiten.

 

Das ist nun eine Symphonie in Farben. Kein Wunder, hier wird ja auch nach Farben gemalt, nach denen von Cuno Amiet, und Louise, die (wichtigste) Frau in dessen Leben, wird umkreist: „Muse. Körper. Objekt. Mutter. Bäuerin. Bedienstete.“ Manches war sie also für Amiet, Etliches auch für sich selbst. „Kein Spiegelbild. Viel mehr die Ahnung einer anderen Lousie“, heisst es an einer Stelle. Rot, aufwühlend ist das, gelb, licht, zuweilen verführerisch. Blau mag Hoffnung geben, schimmert aber auch ins Düstere hinüber. Zärtlich das eine Bild, schwer, schwermütig das andere, eindrücklich auf jeden Fall.

Dinah Wernli: Louise – inspiriert von Cuno Amiets Kunst. Edition Moderne, Zürich 2024. Verstärkter Kartoneinband, Grossformat, 166 Seiten.

 

Ohne Plan sei er gereist, versichert Karel Capek in den 1923 auf tschechisch erschienenen Briefen aus Italien, und seine hingetupften Notizen sind zuweilen scharfzüngig, zuweilen liebevoll, aber immer ergötzlich zu lesen. Doch dieses Buch als Fortsetzung anderer Länderstudien von Capek wird nicht ganz ohne Risiko veröffentlicht: „Der Verlag“, heisst es in einer Fussnote (die oben an der Seite angebracht ist, also wohl eine Kopfnote genannt werden müsste), „erklärt sich nach den üblichen Regularien zur Abgeltung der Rechte an der deutschen Übersetzung bereit, falls diese nachgewiesen werden können.“ Auch in einem anderen Verlag ist vor ein paar Jahren die Übersetzung eines Buchs ohne explizit erworbene Rechte erschienen, worauf die angebliche Erbin mit rechtlichen Schritten drohte, wobei gerade dies umstritten war: ob sie die Erbin sei, weshalb wir die Drohung souverän aussassen, da wir im Angesicht der Nachwelt, der dieses übersetzte Buch ans Herz gelegt werden musste, im Recht waren.

Karel Capek: Briefe aus Italien. Aus dem Tschechischen von Erika Sangerberg. Bearbeitet von Christoph Blum. Lenos Verlag, Basel 2024. Broschur, 108 Seiten (Deutsche Erstausgabe 1961).

 

Bei dieser Zusammenstellung aus den bisherigen Lyrikbänden des Limmat Verlags habe den Herausgeber ein „Sturm von Leichtigkeit und Lebendigkeit“ überwältigt, da sich darin „eine hohe poetische Empfindsamkeit, intensiv, unnachgiebig und sparsam, offen für das, was überfliesst, für jede Gelegenheit zum Fühlen und Nachdenken“ äussert. Natur spielt eine wichtige Rolle, immer wieder:

Der Herbst steht still / Ich spüre Schnee in meiner Seele / Aus ist der Monat der Rosen / Im Schilf: ein Knistern / Nicht eine Taube hält in der Luft / im Gebüsch die Amsel vielleicht / die braunen Bienen werben um die verborgene Süsse / unter dem wunden Himmel den eine unnötige Sonne erhellt / Lärchen, fein vor dem Himmel / berauschende Winde der Wüste / der Schrei der vom Sommer wie trunkenen Schwalben / der Durst des Grases, das die grausame Hand der Sonne erschöpft hat / der Herbst weint seine Blätter.

Ein Seidenfaden zu den Träumen. Gedichte aus der Schweiz. Ausgewählt und mit einem Vorwort von Usama Al Shamani. Mit Übersetzungen aus den andern drei Landessprachen ins Deutsche. Limmat Verlag, Zürich 2025. Gebunden, 134 Seiten.

 

Aus andern Tiefen taucht der Neptun-Verlag auf. Verschiedene Quellen haben sich zu einem breiteren Berner Fluss vereint. Verschriftlichte Erzählkultur gibt es hier, von den Lagerfeuern der Tuareg auf die heimische Sagentradition übertragen. Der König der Bernina wurde einst von heiligen Wassern gerufen, jetzt, oder zumindest im 10. Jahrhundert, ruft die Feenkönigin, und man kann das sogar an die Gegenwart andocken, da es doch „ein berührendes Symbol für die verbindende Wiederbelebung der alten Mythen im Zeitalter der Globalisierung“ darstellen soll.

Andreas Sommer: Helisee – Der Ruf der Feenkönigin. Ein magischer Roman aus der Schweizer Sagenwelt. Neptun Verlag. 2. vom Autor durchgesehene und korrigierte Auflage. Neptun Verlag, Bern 2024. Broschur, 528 Seiten.

 

Ja, sie hat unvergleichlich und auf manchen Tanzflächen der Moderne getanzt, und für einen, der zwei rechte Füsse hat, was ihn auch im Fussball etwas einseitig spielen liess, ist das umso bewundernswerter. Ein Impetus für Perrrottet war an verschiedenen Orten die lebensreformerische Utopie, zu der in letzter Zeit zwei Bücher erschienen sind, gelegentlich recht kritisch, weil es tatsächlich in zwei Richtungen gehen kann, rückwärts zur Scholle oder vorwärts zu einem befreiten Leben.

Suzanne Perrottet: Die Befreiung des Körpers. Erinnerungen. Nimbus Verlag, Wädenswil 2014. Gebunden, 224 Seiten.

 

Nein, dies ist kein Kochbuch, es ist ein Haushaltsbuch. Aber nicht eines aus vergangenen Zeiten, als das Haushalten noch den Mädchen vorbehalten blieb oder aufgezwungen wurde. Hier geht es um neue Formen, Arbeitsteilungen und Haltungen im Haushalt. In Interviews mit verschiedener Prominenz wird ein Menu von Themen aufgetischt, und dazu werden andere Wohnformen vorgeführt, von Singles über Kleinhaushalte bis zu Kollektiven für verschiedenste Geschmäcker. Bilder hat es auch, mit vielen Kindern (die finanzielle Krise um die AHV wird immer wieder aus politischen Gründen übertrieben); besonders aussagekräftig Fotos von Singlehaushalten, weil da die Einzelnen in aller Selbstinszenierung in den Vordergrund gerückt werden.

Samuel Geiser / Heidi Kronenberg / Yoshiko Kusano (Fotos): Küchengespräche. Wer kocht, putzt, wäscht und tröstet? Rotpunktverlag, Zürich 2024. Gebunden, 294 Seiten.

 

Wers international will: Hier findet sich ein posthumes Briefgespräch mit dem 2005 verstorbenen Übervater der Kunstszene, Harald Szeemann. Anda Rottenberg reflektiert über die Kunst des Kuratierens, über die Rolle von Künstlerinnen in Geschichte und Gegenwart. Bezüglich des Buchtitels gibt es den verwechselbaren Filmtitel „From Russia with Love“, was ja einstmals halbwegs (oder zu einem Viertel) erträglicher Eskapismus war, jetzt aber doch eine unpassende Assoziation voller Zumutungen ist.

Anda Rottenberg: from Poland with Love. Letters to Harald Szeemann. Scheidegger&Spiess, Zürich 2019. Englisch. 198 Seiten.

 

Diese Geschichte ist gar nicht so kurz, da sie doch im 16. Jahrhundert beginnt, mit protestantischen Flüchtlingen aus Italien nach Genf – ja, das schlagen wir historisch nicht ganz korrekt zur Schweiz, und ja, es gab eine glorreiche Schweizer Asyltradition, die leider längst vergangen ist. Massenhaft beginnt die Geschichte der italienischen Migration mit den Tunnelbauten in den 1870er-Jahren und nochmals verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Ricciardi liefert Statistiken, Hintergründe und Auswirkungen auf die Politik etwa der Gewerkschaften, aber auch Notizen zur Alltagskultur, in dem der Fussball, etwas vorhersehbar, nicht fehlen darf.

Toni Ricciardi: Eine kurze Geschichte der italienischen Migration in der Schweiz. Aus dem Italienischen von Arsenio Ermano. Mit einem Vorwort von Sandro Cattacin. Seismo Verlag, Zürich 2023. Broschur, 234 Seiten.

 

Plötzlich diese Unübersichtlichkeit, belegt dieser Band, als in den 1960er-Jahren Betonwohnsiedlungen entstanden. Hansruedi Scheller hat Ordnung und Orientierung hineingebracht. Jeder, der eine Bank braucht, natürlich nicht eine der (halb)kriminellen Grossbanken, sondern etwa eine Kantonalbank, kennt Schellers stilisiertes K in verschiedenen Farben. Mindestens 174 Bauten und Baukomplexe hat er mit seiner Signaletik gegliedert, zuweilen gradlinig, klar, zuweilen auch verspielt, mit runden Figuren und Tieren. Selbst bei der Kaserne des Geniewaffenplatzes Bremgarten sind so alle Funktionen human auffindbar. Wer wissen will, wie man sich nicht verirrt: hier finden sich bekannte und unbekannte und bekannt-unbekannte Signale und Signete. Ein unerschöpfliches Thema und ein unerschöpfliches Buch.

Ruedi Weidmann / Thomas Bruggisser: Hansruedi Scheller. Signaletikpionier. Triest Verlag, Zürich 2024. Broschur, 124 Seiten.

 

Nochmals ein prächtiges Buch zur Schweizer Bau- und Alltagskunst: Handwerk hat farbenen Boden. Es geht um Materialien und Farbeinsatz, enzyklopädisch wissenswert und prächtig anschaulich. Das Haus der Farbe war übrigens bis vor kurzem in der Nähe des bücherraums f situiert, in einem Gebäude der ehemaligen Maschinenfabrik Bührle & Co in Oerlikon, neben den erstaunlichen Fresken in der Kantine und mit Ausgang auf den wunderschönen Gustav-Ammann-Park, durch die und mit dem Bührle einst die Arbeitskraft der ausgebeuteten Arbeiter*innen zu erneuern suchte.

Haus der Farbe (Hrsg): Farbkultur und Handwerk in Schweizer Regionen. Triest Verlag, Zürich 2024. Zweisprachig deutsch/französisch. Grossformat, Broschur, 190 Seiten.

 

Manche lokale Alternativkultur ist in letzter Zeit aufgearbeitet worden, in opulenten Text-/Bildbänden, für Bern, Zürich. Warum also nicht auch für St. Gallen, das (ausser in der WOZ und im Bundesrat) immer ein wenig unterschätzt wird. Das Klischee, dass Fotografien mehr als Worte sagen, wird hier teilweise gerechtfertigt, weil Sozialbewegungen Spektakuläres bieten, aber auch weil Jugendbewegungen immer Kulturbewegungen waren und entsprechend immer aufs Visuelle setzten. Ohne die Gegenwart ganz aus den Augen zu verlieren, kann man sich hier in der Geschichte verlieren; im Titel feiert sogar der Stabreim fröhliche Urständ.

Simone Meyer: Güllens grünes Gemüse. Ein halbes Jahrhundert Jugendkultur und städtische Jugendarbeit in St. Gallen. Schriftenreihe der Stadt St. Gallen. VGS Verlagsgenossenschaft, 2. Auflage 2023 (Erstauflage 2022). Grossformat, Broschur, 324 Seiten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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