Folter und Selbstunterwerfung

Wer hat «1984» geschrieben? Die Geschichte von Comrade No 6079, Smith Winston, über dessen Leben und gescheiterten Versuch, sich in einer totalitären Gesellschaft gegen eine allmächtige Partei aufzulehnen, wird als auktorialer Bericht aus dem Jahr 1984 wiedergegeben, schonungslos in der Darstellung der Unterwerfung von Winston, aber ohne erkennbare Sympathie für das System.

Aber das 1949 erschienene Buch «Nineteen Eighty-Four» von George Orwell wird mit einem Appendix über die Prinzipien von Newspeak abgeschlossen, jener Sprache, die die Gesellschaft unter der Anleitung des ebenso fürsorglichen wie allmächtigen Big Brothers entwickelt hat. Dieser Appendix ist um das Jahr 2050 datiert und nimmt immer wieder Bezug auf den Sprachgebrauch aus dem Jahr 1984, der noch nicht ganz der gereinigten, zur logischen Konsequenz einer widerspruchsfreien Welt vorangetriebenen Sprache entsprochen habe. Das heisst, bei Winstons Geschichte handelt es sich offensichtlich nicht um eine Samisdat-Publikation, die, wie subkutan auch immer, die Hoffnung auf ein Fünkchen Widerstand aufrecht zu erhalten versuchte, sondern die Veröffentlichung muss von oberster Instanz der sich um das Jahr 2050 erst vollendenden Herrschaft gebilligt worden sein, als Abschreckung, als warnendes Beispiel dafür, was geschieht, wenn jemand, irgend jemand, sich gegen Big Brother auflehnt.

Diese romantechnische Konstellation in George Orwells Roman haben Duncan Macmillan und Robert Icke zum Ausgangspunkt ihrer 2014 erfolgreich uraufgeführten, jetzt in London wieder aufgenommenen Dramatisierung von Orwells Dystopie gemacht, ja, sie haben daraus weiterführende Schlussfolgerungen gezogen. Indem Winston Smiths Geschichte wohl im Auftrag von Big Brother veröffentlicht worden ist, wird deren historische Verbürgtheit durchaus ungewiss. Das Ringen zwischen Wahrheit und Lüge, die im Zentrum von Winstons Geschichte steht, gilt selbstreferentiell für die Erzählung selbst. Hat es diese Aufzeichnungen wirklich gegeben? Hat es Winston Smith je gegeben? Wer kann das schon wissen? Spielt es eine Rolle? Entscheidend ist die Botschaft der Geschichte: Rebellion ist zwecklos. Wahrheit ist eine Frage der Macht. 2 plus 2 ergibt so viel, wie die Partei gerade will.

Das ist als Interpretationsansatz nicht uninteressant, doch lassen sich zwei abschwächende Argumente vorbringen. Erstens war George Orwell als Schriftsteller nie ein Avantgardist; die Selbstbezüglichkeit der modernistischen Literatur lag ihm fern, ja, war ihm ein Greuel. Zweifellos war der Appendix vor allem als zusätzlicher Essay zu einer zentralen Thematik des Romans gedacht, aber ob Orwell damit die ganze vorangegangene Geschichte erkenntnistheoretisch ins Schweben bringen wollte, scheint fraglich. Zweitens bringt der Ansatz theatralisch für die Inszenierung von Icke und Macmillan weniger, als sie versprechen. Zwar bauen sie zu Beginn eine Rahmenhandlung auf. Einige Figuren, die in der späteren Geschichte von Winston Smith auftauchen, versammeln sich zu Beginn um diesen und diskutieren seine Existenz und seine Botschaft, wie ein Buch in einem Lesezirkel.

Das wars dann aber auch schon, die Versuchsanordnung wird in der Folge kaum mehr aufgenommen, sondern jetzt entfaltet sich, herkömmlich und gradlinig, der Alltag im Airstrip One, im Minitrue, dem Ministerium für Wahrheit, wo Winston arbeitet und wo alle –  Groundhog Day – jeden Tag das selbe erzählen, da in der schönen neuen Welt um 1984 der chronologische Fortschritt der Zeit weitgehend durch die tägliche Wiederkehr des Immergleichen abgelöst worden ist. Nur Winston lehnt sich auf und entdeckt beim aus der zeitlosen Zeit gefallenen Antiquar das wahre Leben, mit Julia von der Jugendliga gegen Sexualität: richtiger Schinken, Sex, frischer Kaffee, halb erinnerte Kinderlieder, Sex sowie das Buch der Wahrheit des Renegaten Emmanuel Goldstein, das ihm vom oppositionellen Parteifunktionär O’Brien klandestin ausgehändigt wird. Dieser Alltag ebenso wie der Ausbruchsversuch wird punktiert von Knalleffekten, wenn das Regime wieder mal um Aufmerksamkeit heischt oder irgendwo zuschlägt. Bis die ganze Idylle von Winston und Julia mit viel Getöse und Stroboskopblitzen in die Luft fliegt, die Gedankenpolizei in den Liebeshorst eindringt, denn sie alle, der freundliche Antiquar, der oppositionelle O’Brien haben ihm eine Falle gestellt.

Der zweite Teil der Inszenierung ist dann eine lange Folter.

Winston soll seinen Irrlehren abschwören, und O’Brien (Angus Wright) versucht das mit einer Mischung aus suaver Beredsamkeit und brachialer Gewalt zu erreichen. Es fliesst viel Blut und Speichel, Winston (Andrew Gower) wehrt sich mit Kopf, Leib und Seele, bis er mit dem Schlimmsten konfrontiert wird, was die Folterer im «room 101» aufzubieten haben.

George Orwell war ein glänzender Essayist, aber ein Romanschreiber unterschiedlicher Qualität. «Nineteen Eighty-Four» ist ein mittelprächtiger Roman. Die Anlage ist ingeniös, und das Buch liefert zahlreiche schlagende Ideen für eine totalitäre Herrschaft, samt sprichwörtlich gewordener Bilder und Formulierungen. Die Überwachungskonzepte von Big Brother und «room 101» mögen populärkulturell überbeansprucht sein, aber sie wirken immer noch, eingängig und eindrücklich. Massnahmen wie das Prism-Überwachungsprogramm der NSA bestätigen Orwells weitreichendste technologische Fantasien, und in einer Zeit, in der Donald Trump zum republikanischen Präsidentschaftskandidat werden kann, scheint die Herrschaft der Lüge auf der Hand zu liegen.

Doch anders als bei «Animal Farm» hat sich Orwell nicht entscheiden können, der Parabelform ganz zu vertrauen, sondern baut viel mittelmässige realistische, psychologisierende Beschreibungen ein. Die bedienen gelegentlich ein zeitgemäss konservatives Frauenbild: Julia ist gerade gut genug für eine Revolte «von der Taille abwärts». Umgekehrt bleiben die Motivierungen Winstons, warum er sich zum Widerstand gegen die allmächtige Partei entscheidet, blass, und es bleibt nicht nachvollziehbar, warum er O’Brien bei der vermeintlichen Rekrutierung zusichert, im Widerstandskampf zu allen Schandtaten bereit zu sein, womit O’Brien Winston später vorführen kann, dass es mit dessen angeblicher moralischer Überlegenheit nicht weit her sei.

Noch folgenreicher allerdings: Gegen den Schluss des Buchs gerät Orwell in den Sog seiner Imaginationen zu Repressionstechniken. So konzentriert er sich darauf, dass der Widerstand von Comrade No 6079 letztlich mittels Folter gebrochen wird. Historisch gesehen fiel der Roman damit hinter das Verstörendste an den stalinistischen Schauprozessen zurück, die ja eine Folie für «Nineteen Eighty-Four» bilden: Dass Leute wie Nikolai Bucharin haarsträubende Anschuldigungen gestanden, weil sie sich noch immer einredeten, durch ihr Opfer der Partei und der Sache am besten zu dienen.

Und von heute aus gesehen wirken diese Herrschaftstechniken eindimensional. Aldous Huxley hatte in seiner «Brave New World» 1934 schon genauer als später Orwell das Konzept der repressiven Toleranz dargestellt und die systemstabilisierenden Kräfte der Unterhaltungsindustrie beschrieben. Er hatte damit die gramscianische Wende der Machttheorie vollzogen: Herrschaft arbeitet nicht nur mit Unterwerfung, sondern auch mit der Herstellung von Einverständnis der sich selbsttätig Unterwerfenden.

Folter mag das Schlimmste sein, was Menschen angetan werden kann, aber sie ist nicht immer die massenhaft wirkungsvollste Herrschaftstechnik. So endet die Londoner Inszenierung mit schaudernder Abwendung, aber beschränkter Einsicht.

Stefan Howald

 

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