Kreide fressen müssen viele nach dem unerwartet guten Abschneiden von Jeremy Corbyns Labour Party bei den britischen Parlamentswahlen. Nein, wir wollen nicht übertreiben: Gewonnen hat er die Wahlen nicht, aber angesichts der Voraussetzungen einen unerwarteten, sensationellen Zwischenerfolg errungen.
Zu den Voraussetzungen gehörte die Feindseligkeit des überwiegenden Teils der Medien. Selbst auf der linksliberalen Seite. Eines der grössten Opfer ist der New Statesman unter seinem Chefredaktor Jason Cowley. Der hat in der letzten Nummer vor der Wahl einen länglichen Artikel geschrieben, wie Labour vernichtend geschlagen werde, auf 150 Sitze zusammenschrumpfe, weil Corbyn mit seinem Programm aus den Siebzigern jeden Kontakt zu den durchschnittlichen Leuten verloren habe. Wie gesagt, was die Wahlresultate betrifft, so haben sich viele getäuscht, aber Cowleys Artikel sticht heraus in seinem totalen Unverständnis, auch nur etwas vom neuen Sog im Labour-Manifest, in den neuen Mitgliedern und in Corbyns unkonventionellem Politikstil zu spüren, und stattdessen von Patriotismus zu schwafeln, den Corbyn nicht verstehe und dabei noch auf George Orwell zu rekurrieren, der den englischen Patriotismus in einer schwachen Stunde während des Zweiten Weltkriegs zur grundlegenden Charaktereigenschaft der Briten erklärt hatte. Me thinks he should resign (nicht Orwell, sondern Cowley).
Auch ich fresse Kreide, weil ich es schon als Erfolg verstehen wollte, wenn Labour bei den Stimmen moderat zugelegt und die Sitzzahl hätte halten können. Aber für mich, und darauf halte ich mir etwas zu gute, war die Frage bezüglich Corbyn immer, ob er seinen unbestreitbaren und erfreulichen Erfolg bei der Mobilisierung neuer Mitglieder für Labour umsetzen könne in die Aktivierung dieser neuen Mitglieder vor Ort. Diesen Test hat die neue Bewegung nun fürs Erste bestanden.
Dabei sind die sozialen Medien wieder mal in den Vordergrund gerückt. Corbyn, dieser «naiv gutmeinende» oder «gefährliche» Rückfall in die siebziger Jahre, hat den Kampf bei den neuen Medien klar für sich entschieden. Seine Twitter- und Facebook-Accounts hatten mehr als doppelt so viele Followers als die von Theresa May, und vor allem haben sie kurz vor den Wahlen überproportional zugenommen.
Auch die Mobilisierung der neuen Mitglieder ist mehrheitlich durch diese Medien erfolgt. Da wird es aber interessant: Mobilisierung wofür? Nun, für lokale Veranstaltungen und vor allem fürs Canvassing. Canvassing ist eine angloamerikanische Spezialität: das Türklinkenputzen. Die Parteien bauen nicht einfach Stände auf öffentlichen Plätzen auf und warten, ob jemand sich ihrer erbarmt und ihnen ein Flugblatt abnimmt. Sondern sie gehen von Tür zu Tür, um ihre Werbung direkt an Mann, Frau, Kind und Hund zu bringen. Das tönt furchtbar altmodisch, aber gerade die neuen Labour-Mitglieder haben in nie gesehener Zahl solches Canvassing betrieben. Und dabei hat Momentum eine zentrale Rolle gespielt. Momentum war ein Wahlverein für Corbyn innerhalb der Labour Party, und weil ein paar unrekonstruierte KommunistInnen und Trotzkisten eine gewisse Rolle darin spielten, wurde die ganze Organisation gleich verschwörungstheoretisch abqualifiziert. Für diese Wahlen nun hat Momentum neben der Labour-Party-Maschinerie die neuen Mitglieder motiviert, und dies unabhängig von irgendwelchen parteiinternen Spielchen: Ziel war es, Labour mehr Sitze zu verschaffen. Während die offiziellen Labour-Sektionen vor allem an die Verteidigung von womöglich gefährdeten Sitzen dachten, mobilisierte Momentum frech für Marginals, also solche Sitze, in denen die Tories (oder gelegentlich auch die Liberaldemokraten) nur über eine knappe Mehrheit verfügten und wo, bei optimistischer Gemütslage, eine geringe Chance bestand, dass Labour den einen oder anderen Sitz holen würde. Der Erfolg der Mobilisierung war teilweise im Wortsinn überwältigend: In einzelnen Wahlbezirken trafen so viele HelferInnen ein, dass gar nicht mehr alle eingesetzt werden konnten. Beziehungsweise neue Aufgaben übernahmen. Denn normalerweise besteht Canvassing darin, dass man nicht beliebig von Tür zu Tür geht, sondern sich auf jene Haushalte konzentriert, die schon mal Labour gewählt haben oder Sympathien bekundet haben oder Sympathien haben könnten – es geht also vor allem darum, potentielle Labour-WählerInnen überhaupt an die Urne zu bringen und den einen oder anderen Unentschiedenen noch zu überzeugen. Doch weil in einigen Wahlbezirken die erste Welle von Freiwilligen schon alle entsprechenden Klinken geputzt hatten und weiterhin Leute eintrafen, entschied man: Na, dann läuten wir doch wirklich an jeder Tür, auch an solchen, wo ein Plakat verkündet, hier wähle man die Tories oder Libdem. Und siehe da: Einer dieser Sitze ging mit einem rekordverdächtigen Swing von 14 Prozent an Labour (Swing ist auch wieder so was spezifisch Angelsächsisches: wie sich die Wählerverhältnisse zwischen den beiden im Wahlkreis grössten Parteien verändern. Das ist nicht identisch mit WechselwählerInnen, da ja sehr viele neue WählerInnen für Labour gestimmt und damit deren absolute Stimmenzahl erhöht haben. Aber weil andererseits die Tories viele Ukip-Stimmen geerbt haben (ein Grund, weshalb sie trotz ihrer Niederlage mehr Stimmen als bei den letzten Wahlen erzielt haben), müssen doch etliche Tory-WählerInnen zu Labour gewechselt haben.
Die sozialen Medien sind noch immer vorwiegend ein Kommunikationsmittel. Sie sind nicht schon als solche die digitale Demokratie. Es braucht weiterhin die handfeste, leibhaftige, persönliche Aktivität vor Ort. Die britischen Wahlen zeigten auch: Viele derjenigen, die erstmals Klinken putzten, waren begeistert und wollen weitermachen. Jetzt muss das fortgesetzt werden mit handfester, leibhaftiger, persönlicher lokaler Politik. Damit bei den nächsten Wahlen Labour wirklich gewinnt.
Stefan Howald