Ist Europa noch zu retten?

Anmerkungen zum Europakongress der WOZ – Die Wochenzeitung

Von Stefan Howald

Am Beginn stand eine Überraschung und ein Versäumnis: Die Redaktion der WOZ Die Wochenzeitung hatte, wie viele andere auch, im Juni 2016 nicht mit einem Ja zum Brexit gerechnet. Sie hatte keine vertiefte Berichterstattung zu einem möglichen Austritt Grossbritanniens aus der Europäischen Union vorbereitet und musste sich kurzfristig neue Zugänge überlegen. Dabei zeigte sich: Innerhalb der Redaktion existierte ein vager Konsens zur Europapolitik, oder vielmehr ein klarer Konsens zum Nationalstaat – der steht in einer verheerenden Tradition und ist ein Auslaufmodell. Dagegen gab es keinen kohärenten Diskurs, keine ausformulierten Argumente für eine transnationale Politik. Und es gab umgekehrt wenig Einsicht in die vordergründigen oder tiefsitzenden Ressentiments gegenüber der EU und anderen transnationalen Institutionen, die sich im Brexit-Votum gerade auch bei sozial benachteiligten Schichten gezeigt hatten.

Deshalb beschloss das WOZ-Kollektiv, einen Europakongress zu organisieren. Der erste Impuls in der vorbereitenden Gruppe lautete: Argumente gegen Nationalismus und Xenophobie zu liefern, damit auch gegen die Schweizerische Volkspartei (SVP). Der zweite Impuls lautete: Bloss nicht die ewige Jammerei über den Rechtsnationalismus und die üblichen Verdächtigen. Sich nicht auf die Vorgaben von rechts einlassen, sondern umgekehrt formulieren, was uns an Europa beschäftigt – sicherlich, was uns daran ärgert und empört, aber auch, was wir davon erwarten und erhoffen. Ein Manifest sollte es nicht werden, etwa: Jetzt rein in die EU, oder kein Inländervorrang. Sondern zuerst einmal eine weit reichende Bestandesaufnahme. Zuerst einmal ein paar richtige Fragen, und dann vielleicht ein paar informierte Antworten.

Im Verlauf der Organisation mussten wir uns gelegentlich vor der Tendenz bewahren, Europa realpolitisch auf die Europäische Union – und das Verhältnis der Schweiz zu dieser – zu reduzieren. Vernehmbar werden sollten auch Stimmen von ausserhalb oder vom Rand. So luden wir etwa die türkische Schriftstellerin und Journalistin Ece Temelkuran ein. Damit begannen die aktuellen europäischen Geschichten. Denn Temelkuran wohnt gegenwärtig in Zagreb, mit einem zeitlich beschränkten Visum, und angesichts ihrer scharfen Kritik am Erdogan-Regime gab ihr Rechtsberater plötzlich zu bedenken, womöglich werde bei einer Teilnahme in Zürich die türkische Regierung von Kroatien verlangen, Temelkuran das Visum nicht mehr zu erneuern – eine nicht ganz unbegründete Befürchtung, wie die Verhaftung eines türkisch-deutschen Schriftstellers in Spanien gezeigt hat, ebenso wie der Druck, den das türkische Regime durch tausende von Interpol-Gesuchen aufs europäische Rechtssystem zu erzeugen versucht. So verzichtete Temelkuran mit Bedauern auf die Teilnahme.

Schliesslich kamen 25 ReferentInnen aus zehn Ländern für ein Wochenende nach Zürich. Der Europakongress der WOZ ging am 8./9. September 2017 über die Bühne des Zürcher Volkshauses, mit acht Podien sowie sechs Workshops in der Zürcher Bäckeranlage. Er war ein Erfolg, mit über 400 TeilnehmerInnen und sachorientierten, zuweilen auch kontroversen Debatten.

Nationalstaat und Transnationalität

Er war ein Erfolg, trotz Anlaufschwierigkeiten. Die Auftaktveranstaltung am Freitagabend verlief aufschlussreich, obwohl, oder weil, sie teilweise missglückte. Die US-Soziologin Saskia Sassen (The Global Cities) eröffnete als Starreferentin die Tagung  – und sagte in ihrem Eingangsreferat kein einziges Wort zu Europa. Stattdessen sprach sie über die Finanzialisierung der globalen Wirtschaft, über die weltweite Urbanisierung und die Aushöhlung des öffentlichen Raums sowie über die neue verschärfte Form der Migration, die viele Menschen durch die Zerstörung ihrer Lebensbedingungen in die Fremde ausstösst. Das war nicht so geplant, und es irritierte. Aber sie machte damit zweierlei: Erstens beschrieb sie globale Tendenzen, von denen auch Europa betroffen ist, und zweitens verdeutlichte sie die reduzierte Bedeutung der Entität «Europa».

Der Historiker Jakob Tanner knüpfte an diese signifikante Leerstelle an und rekonstruierte Europa und die Europäische Union als historisch flirrendes Bild. Für die Europäische Gemeinschaft (EG) beziehungsweise die EU gibt es, so führte er aus, keine monokausale Erklärung, sie entsprang unterschiedlichen Motiven und Traditionen und führte zu teilweise unbeabsichtigten Resultaten. Gerade die transnationale Institution rettete den eigentlich diskreditierten Nationalstaat, indem sie ihm in einem übergeordneten Gefüge eine neue Rolle zuwies. Die EU ist immer verschiedenes zugleich: ein Friedensprojekt und ein neoliberales Zwangsregime, ein Aushandlungsmechanismus und ein Machtkartell. Sie weist gravierende demokratische Defizite und zugleich neue demokratische Ansätze auf.

Solchen ansatzweise positiven Einschätzungen setzte Catarina Principe, Mitglied des portugiesischen «Bloco de Esquerda» (Linksblock), ein radikal anderes Bild entgegen. Die EU habe die Nationalstaaten grundsätzlich rekonfiguriert, die forcierte Konkurrenz der nationalen Volkswirtschaften den EU-Raum in Zentrum und Peripherie zerklüftet. Dabei werde die Austeritätspolitik als Klassenkampf von oben in den Nationalstaaten geführt. Dem müsse der Klassenkampf im Nationalstaat antworten. Principe verneinte dabei jedes demokratische Potenzial in der EU. Dem widersprach Jakob Tanner. Trotz ähnlicher Analyse der Defizite der EU sei für ihn deren Dämonisierung keine hilfreiche Strategie. Damit würden Notwendigkeiten verkannt. Zur Lösung bestimmter Probleme sei der Nationalstaat zu klein geworden. Die griechische Krise zum Beispiel könne national nicht bewältigt werden. Auch Saskia Sassen sekundierte, die globalen Finanzströme und die beharrende Kraft internationaler Institutionen verlangten nach transnationalen Gegenmitteln.

Damit war eine Frage angesprochen, die im Verlauf des Kongresses auf allen Podien wiederkehrte und diese implizit miteinander verschränkte: Welches sind die Räume für die aktuellen Kämpfe?

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Lesen Sie weiter in der neusten Ausgabe des Widerspruch 71: Militarisierung, Krieg und Frieden. Zürich 2017, S. 127 – 133.

www.widerspruch.ch

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