Wenn Atlantis auftaucht

bücherräumereien XLIII

Aus aktuellem Anlass gelesen: Ursula K. Le Guins Umwelt-Dystopie “Das neue Atlantis” von 1975 über eine Gesellschaft zwischen Klimakatastrophe, Repression und Hoffnung.

Ursula K. Le Guin (1929-2018) war fünfzig Jahre lang eine der innovativsten Autorinnen in jenem Genre gewesen, das sich als Science-Fiction oder (kritische) phantastische Literatur nur unzureichend klassifizieren lässt; wobei sie überschiessende Fantasie mit technischem Fachwissen und einem sozialkritischen, feministischen Ansatz verband.

Die im Sammelband “Die Kompassrose” enthaltene Erzählung «Das neue Atlantis» von 1975 ist entschieden aktuell, in mehrfacher Hinsicht. Der Ausgangspunkt ist mittlerweile nicht mehr ganz so phantastisch: Manhattan ist bei Ebbe von vier Metern Wasser bedeckt, und an einigen Plätzen bilden sich Austernbänke, das Weisse Haus ist in die Höhe nach Aspen evakuiert worden, Florida hängt kaum noch mit dem Festland zusammen, und Sturmfluten beschädigen immer wieder die Infrastruktur im ganzen Land.

Solche Veränderungen durch das Schmelzen der Polarkappen haben offenbar zu einer Gesellschaftsform geführt, die Repression mit Dysfunktionalität verbindet. Le Guin beschreibt, zuweilen mit sarkastischem Witz, wie die einstigen Superschneller-Superpanorama-Deluxe-Überland-kohlegetriebenen-Autobusse zu heruntergekommenen Lokalbussen verkommen sind, die häufig zusammenbrechen; wie durch Kerzenvorräte die ständigen Blackouts bewältigt werden sollen und die Rationierungsmarken kaum fürs notwendigste Essen reichen; aber auch, wie das Regime Recht zurechtbiegt, Unbotmässige in Umerziehungslager gesteckt oder in Sanatorien stillgelegt werden oder wie ein aufgeblähter Staats- und Polizeiapparat Heiraten verboten hat, um unerwünschte, ressourcenbelastende Schwangerschaften zu verhindern. Manches erinnert in dieser Hinsicht an die klassische Dystopie von Orwells «Neunzehnvierundachtzig». Das Besondere ist freilich die Umweltkatastrophe, die den Rahmen bildet und zugleich den Plot bis zum bitteren Ende vorantreibt.

Die Ich-Erzählerin nämlich, eine Bratschenspielerin, lebt mit einem Wissenschaftler zusammen, der eben aus dem Lager entlassen worden ist und jetzt, während die Überwachungswanze in der Wohnung in Watte verpackt wird und gelegentliches Bratschenspielen die geflüsterten Gespräche abschirmen soll, von Kolleg:innen darüber informiert wird, dass diese die theoretische Forschung des Wissenschaftlers in einen praktischen Prototypen umgewandelt haben, der es erlaubt, Sonnenenergie ohne Umweg über irgendwelche Umwandlungstechnologien benützen zu können. So wie Blumen das Sonnenlicht aufsaugen, soll die entsprechend benannte «Blumenenergie» auskommen, ohne Notwendigkeit, die Erde etwa durch die Produktion von Sonnenkollektoren oder anderen Umwandlungsapparaturen weiter zu quälen und zu schinden. Die Gruppe verschwörerischer Wissenschaftler:innen stellt sich vor, wie die neue Technologie, die eigentlich keine mehr ist, jedem Einzelnen autarkes Leben ermöglichen und damit die zentralisierte Herrschaft unterlaufen könnte: ein verheissungsvolles Utopia einer neuen, befreiten Menschheit. Dagegen bleibt die Ich-Erzählerin skeptisch, und tatsächlich wird wenig später ihr Mann verhaftet und in ein Sanatorium eingeliefert. Sie selbst macht sich mit dem Notdürftigsten ausgerüstet auf den Weg in eine unzugängliche Wildnis, während, wie zu vermuten steht, das Regime sich die neue Erfindung zu eigen und damit die Herrschaft weiter absichern wird. Parallel dazu gibt es allerdings Gerüchte, wonach sich eine grosse neue Insel, Atlantis, aus dem schon den halben Kontinent bedeckenden Meer erheben soll, was sowohl eine Hoffnung wie eine neue Bedrohung darstellt. Das alles ist, fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung gelesen, atemraubend, deprimierend, traurig, aber auch unterhaltsam und, man wagt es kaum zu schreiben, ein wenig hoffnungsvoll im Vertrauen auf die niemals endende menschliche Widerborstigkeit.

 

Der Band befindet sich, einzig in der Schweiz, im bücherraum f beim Bahnhof Zürich-Oerlikon, und zwar in der Bibliothek von schema f, zusammen mit 15 weiteren Büchern von Ursula K. Le Guin.

 

 

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Gesundbaden und Reformhäuser

Reformiert das Leben, ganzheitlich! Die Losung gab es schon vor hundert Jahren. Rohkost statt Veganismus, Luftbadehosen statt – Fitnesstraining? Es ging um einen anderen Umgang mit dem eigenen Körper und der Natur. Es war eine Reaktion auf die Auswirkungen der Industrialisierung und dann der Schlächtereien des 1. Weltkriegs. Der verheerenden Lebensweise sollte ein neuer Sinn abgewonnen werden, Weltverbesserer fanden sich mit Weltverächterinnen, Nonkonformisten mit Heilandsfiguren und Sektengründer.

In der Schweiz erwies sich besonders die Ostschweiz mit ihrer Tradition von Naturheiler:innen und Thermalquellen als ein Jungbrunnen. Die Historikerin Iris Blum hat in zahlreichen Archiven lebensreformerische Projekte ausgegraben und darüber ein reichhaltiges und reichhaltig illustriertes Buch geschrieben: „Monte Verita am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900-1950“. Das reichte von der Freikörperkultur über neue eurythmische Tanzformen und Yoga bis zur arzneilosen Heilkunst als Korrektiv gegenüber der Schulmedizin.

Mitte Oktober hat Iris Blum im bücherraum f einige Exponent:innen und Projekte aus diesem reichen Kulturschatz vorgestellt. Unterhaltsam, kurios, anregend und mit Bezügen zur Gegenwart.

Der Podcast samt anschliessender Diskussion ist hier nachzuhören:

Einige dieser damals exotisch wirkenden, gar als lächerlich abgetanen Utopien sind mittlerweile anerkannt. Das Birchermüesli hat es längst zum Schweizer Markenzeichen geschafft. Die ganzheitliche Methode und das Vertrauen auf die eigenen Heilkräfte sind als Ergänzung der Schulmedizin anerkannt. Der Veganismus wird nicht mehr als Spinnerei abgetan, sondern setzt geradezu Modetrends, ja, das Verhältnis hat sich umgekehrt, da sich angesichts neuer ökologischer Einschätzungen rechtfertigen muss, wer Fleisch verzehrt. Die Abwehr der herkömmlichen Lebensweise führte aber auch zu Übertreibungen, ja, zu lebensgefährdenden Behandlungsformen – aktuelle Debatten um Covid liegen nicht ganz fern.

 

 

Iris Blum: Monte Verità am Säntis. Lebensreform in der Ostschweiz 1900-1950. Verlagsgenossenschaft St. Gallen. St. Gallen 2023. 352 Seiten, mit zahlreichen Illustrationen.

 

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Wir trauern um Pierre Franzen

Pierre Franzen ist am 8. Oktober im Alter von 77 Jahren gestorben. Seit über 40 Jahren war er mir ein Freund, Vordenker und Mitstreiter. Er hat 1981 den Widerspruch mitbegründet und jahrelang geleitet und gehörte 2017 zu den InitiantInnen des bücherraums f. Wir vermissen ihn sehr.

Eine erste Würdigung ist in der WOZ erschienen, siehe https://www.woz.ch/2342/pierre-franzen-1946-2023/widerspruch-als-bewegung-des-geistes/!EK22S70KBBGP

Ein ausführlicher Nachruf folgt an dieser Stelle. Im Januar wird es eine öffentliche Erinnerungsfeier an Pierre geben.

Stefan Howald

 

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Eine Hoffnung für Afrika

Wind of Change – die Entkolonisierung begann in den 1960er-Jahren unaufhaltsam. Nur das sklerotische portugiesische Regime klammerte sich an seine Kolonien. Dagegen gründeten sich Befreiungsbewegungen, in Angola, Mosambik, Guinea-Bissau. Amílcar Cabral (1924-1973) war einer der charismatischsten Führer. 15 Jahre lang führte er die Bewegung zur Befreiung von Guineau-Bissau und der Kapverden an, revolutionär, undogmatisch und pragmatisch zugleich. Er bemühte sich um einen Ausgleich zwischen den beiden ungleichen Landesteilen und setzte auf die damalige  Blockfreienbewegung. Kurz vor der Unabhängigkeit wurde er aus den eigenen Reihen ermordet. Seine Figur und sein Werk bleiben aber bemerkenswert. Hans-Ulrich Stauffer, langjähriger Kenner Afrikas, hat soeben einen Band mit Aufsätzen und Reden von Cabral veröffentlicht, versehen mit einer ausführlichen Einleitung. Im bücherraum f sprach er Ende September über eine eindrückliche Fgur aus der Geschichte und deren Aktualität.

Der Podcast samt lebhafter Diskussion lässt sich hier nachhören:

Hans-Ulrich Stauffer: Amílcar Cabral. Was bleibt – Leben und Werk des Denkers und Revolutionärs. Vorwort von Pedro Pires. Afrika-Komitee Basel, 2023. 200 Seiten, 30 Franken.  Zu beziehen über Afrika-Komitee, Postfach , 4001 Basel.

 

 

 

 

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Klassenkampf und Comicart

Bücherräumereien XLII

Neu im bücherraum f eingetroffen ist eine Sammelmappe mit zwölf Gemälden und Zeichnungen von André Fougeron, einst in Frankreich als «Maler der Arbeiterklasse» gefeiert.

Es ist ein Leben aus dem kurzen 20. Jahrhundert. André Fougeron (1913-1998) wurde in einer Arbeiterfamilie in Paris geboren, arbeitete schon als Jugendlicher als Metallverarbeiter bei Renault und bildete sich autodidaktisch als Zeichner und Maler weiter. Ab 1930 war er aktiv in anarchistischen Zirkeln, deren Zeitschrift er illustrierte. 1935 wirkte er zusammen mit seinem Freund Boris Taslitzky (1911-2005) an dem von Louis Aragon geleiteten Maison de la Culture in Paris. So schuf er 1937 Bilder zur Unterstützung der spanischen Republik. Fougeron und Taslitzky galten zu diesem Zeitpunkt als wichtigste Vertreter einer politisierten, radikalen Malerei. 1939 trat er in die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) ein.

Nach dem Angriff von Nazi-Deutschland auf Frankreich geriert Fougeron an der belgischen Front in Kriegsgefangenschaft, konnte aber fliehen und begann, illegale kulturpolitische Aktivitäten zu organisieren; sein Atelier in Montrouge südlich von Paris stellte er für den Druck von Untergrundschriften zur Verfügung. Nach dem Ende des Kriegs illustrierte er etliche Broschüren der KPF, produzierte für diese auch Flugblätter. 1948 unterstützte er mit dem grossen Gemälde Hommage à André Houllier die Protestkampagne der KPF gegen die Erschiessung des Arbeiters André Houllier durch die Polizei. Wegen seiner kulturpolitischen Tätigkeit wurde er von einem übereifrigen Staatsanwalt wegen Verleumdung der Nation angeklagt, doch wurde die Anklage bald fallengelassen.

1950 lud die Gewerkschaft der Bergarbeiter Fougeron zu einem Studienaufenthalt nach Lens in Nordfrankreich ein. Hier schuf er den grossen Zyklus Le Pays des Mines mit rund vierzig Zeichnungen und Gemälden. Sie zeigten die Bergarbeiter und ihre Familien bei der Arbeit, schilderten die Verheerungen durch Unfälle und Ausbeutung ebenso wie den politischen Kampf dagegen, aber auch den Alltag und die kulturellen Sitten, etwa die populären Hahnenkämpfe oder die allgegenwärtigen Zwiebelzöpfe. In diesen Gemälden orientierte er sich mittlerweile an einem Neoklassizismus in Anlehnung an Jacques-Louis David und dessen Der Tod des Marat, freilich mit expressionistischen Elementen angereichert.

Nach 1953 und dem Tod Stalins kam es aus durchaus undurchsichtigen Gründen zum Bruch mit seinem bisherigen Mentor Louis Aragon. Dieser warf Fougeron anlässlich von dessen Gemälde Civilisation atlantique «Formalismus» vor, in der orthodoxen marxistischen Kulturpolitik damals ein Kapitalverbrechen. Obwohl Fougeron, als Kind seiner Zeit, bis zum Lebensende in der KPF blieb, begann doch eine politische und ästhetische Distanzierung. So setzte er schon in Civilisation atlantique Einzelmotive aus Geschichte und Gegenwart des amerikanischen Kapitalismus montagemässig zusammen. In der Folge nahm sein Malstil zuweilen satirische, ja geradezu comicartige Züge an, bei fotorealistischer Treue zum Detail. Konstant blieb das soziale Engagement, etwa in einer formal strengen, gemalten Montage zu Nelson Mandela (1988).

Im bücherraum f vorhanden ist eine Mappe mit zwölf Drucken aus dem Zyklus Le Pays des Mines von 1950. Die Auswahl besteht aus acht farbigen und vier schwarzweissen Tafeln im Format 26 x 31.5 cm. Erschienen ist die Mappe 1951 in der Edition Cercle dʼart, die 1949 gegründet worden war und von der KPF finanziert wurde. In einem Vorwort spielt Jean Fréville, inoffizieller Kulturminister der KPF, die etwas veraltete Leier, dass sich die Künstler:innen politisch entscheiden müssten. Fougeron habe sich als «Maler der Arbeiterklasse» deren Kampf angeschlossen, weshalb ihn die bürgerliche Presse zusehends verleumde. Bei Fréville wird andererseits ein gewisses Unbehagen über die Formensprache von Fougeron sichtbar, die das Dogma des damals verordneten «sozialistischen Realismus» zu sprengen beginnt.

 

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