Wider die Verlockungen

bücherräumereien XLV

Nicht mehr Bücher zurückbringen als mitgebracht, das ist die erste, halbwegs einfach zu befolgende Regel für einen Gratis-Büchertausch. Keine Bücher zurückbringen ist die praktisch unmöglich zu erfüllende zweite Regel. Dazwischen liegt ein weites Feld. Verlockungen widerstehen, nur Lücken in einem umgrenzten Bestand füllen wollen.

Es ist dann doch schon vorhanden im bücherraum f, eines jener Bücher, das beim diesjährigen Büchertausch des philosophe in D. eingetauscht wurde, das Tagebuch von Etty Hillesum, wiewohl in einer anderen Ausgabe, und das gehört auch zur Wirkungsgeschichte von Hillesum, jener holländischen jüdischen Intellektuellen, die von 1941 bis 1943 die deutsche Besatzung in den Niederlanden in Tagebüchern und Briefen beschrieb und analysierte, bevor sie, vermutlich im November 1943, in Auschwitz ermordet wurde. Maja Wicki, die vor ein paar Jahren verstorbene Freundin und Philosophin, hat Hillesum in einem Buch leuchtend beschrieben, das auch im bücherraum steht: «Kreative Vernunft. Mut und Tragik von Denkerinnen der Moderne».

Mehr Leute denn je fanden sich dieses Jahr im philosphe ein, und mehr Bücher denn je wurden vorbeigebracht. Ja, die Agglomeration liest. Wobei D. nicht eigentlich zur Agglo gehört, sondern zwischen Agglo und Landschaft liegt, eine Zwischen-Zwischen-Lage, die den Stadt-Land-Gegensatz noch deutlicher als gezielte politische Konstruktion entlarvt.

Item, es lassen sich drei Kategorien von Büchern unterscheiden, die zum Umtausch vorbeigebracht werden: Da sind vorerst jene, die einer dringlichen Empfehlung oder einem plötzlichen Impuls folgend gekauft wurden; und zuhause oder gar noch im Zug hat man gemerkt, dieses Buch ist nichts für einen, also wird es schon gar nicht auf den Stapel mit den zu lesenden Büchern gelegt, sondern gleich im Büchergestell versorgt, und kann dann, womöglich noch mit druckfrischer Preisetikette, in den Tausch gegeben werden.

Geschichtsablagerungen

Dann gibt es jene Bücher, einst gelesen, die jetzt nach vier oder fünf oder zehn Jahren doch nicht mehr so ganz der aktuellen Lebenslage und den entsprechenden Stimmungen entsprechen und so mit leisem Bedauern in gutem Zustand, höchstens mit einem Nespresso-Machiato-Fleck auf der viertletzten Seite, vorbeigebracht werden. Ja, die Agglo hat einen guten Bildungsstand, Ausgaben der meisten neueren Schweizer SchriftstellerInnen sind vertreten, nach Frisch und Dürrenmatt, von Werner über Schweikert bis Stamm; da liegt sogar Gerold Späth, aber liest noch jemand den schweizerisch barocken Späth, obwohl der mit seinen Zürcher Seeromanen doch für die Uferinitiative aktuell gewesen wäre?

Mit solchen älteren Büchern geht es schon zur dritten Kategorie aus tieferen Geschichtsablagerungen. Sagen wir mindestens dreissig Jahren zurück. Damals wurden diese Werke verschlungen oder ausführlich annotiert, einiges wurde auch bloss pflichtbewusst gekauft, gehörte dennoch zum Konvolut prägender Bücher – aber jetzt ist es Zeit, das Büchergestell weiträumiger zu räumen, und so kommen ganze Serien in den philosophe. Ulrich K., wie sich Vermerken in den Büchern entnehmen lässt, hat drei Rowohlt-Taschenbücher von Sartre plus eines von Camus entsorgt. Alle aus dem Jahre 1969. Ja, der Existentialismus schmeckt mittlerweile ein wenig merkwürdig.

Wirklich Antiquarisches ist selten, höchstens wenn man darunter Lizenzausgaben wie jene aus dem Schweizer Druck&Verlagshaus zählt, als es noch Buchclubs gab. Léon Uris, Pearl S. Buck, Irving Stone: Populäre Literatur von damals, die überraschend weltläufig war, aber, trotz aller exotischer Schauplätze, den Standpunkt aus dem Weissen Westen nicht verleugnen konnte.

Und dann gibt es jene Bücher mit Zusatzwert: einem Ex Libris, einer Widmung, einer Beilage. Eingeklebte Buchzeichen sind in D. dieses Jahr leider Fehlanzeige. Tja, nur das gehobenere Bürgertum hat sich wohl individuelle Ex Libris geleistet, was zwar nicht stimmt, aber an dieser Stelle als Erklärung genügen soll.

Dafür gibt es andere Funde. In Jerome D. Salingers Catcher in the Rye findet sich eine Postkarte der Penn Station in Manhattan. Hinten drauf schreibt ein «Schuppis» über eine Abendverabredung, die er womöglich nicht einhalten könne, was zum Bahnhof als melancholischem Ort verpasster Begegnungen passt. Dabei scheint es sich zwischen den PostkartenpartnerInnen eher um eine Freundschaft denn um eine Liebschaft zu handeln, was zum Bahnhof als prosaischem Treffpunkt passt.

Auch nicht ganz eindeutig ist eine lange Widmung über Freundschaft&Liebe in einem Band Gesammelte Gedichte aus dem Lehrmittelverband Zürich; vielleicht ist es ein lyrischer Wink mit dem Zaunpfahl, wo die Sehnsüchte liegen, oder, umgekehrt, wo der Grenzzaun gezogen werden soll.

Schonfrist

Wer hätte nicht Bücher im Regal, die einem nicht gehören, aber der Besitzerin nicht zurückgegeben, womöglich sogar aus einer Schulbibliothek entliehen wurden. Dafür gibt es eine Schonfrist, sagen wir vierzig Jahre. Danach ist die Entwendung wenn auch nicht juristisch, so doch moralisch verjährt. Ein Band Emil und die Detektive stammt aus der Schülerbibliothek Bühl, ganz in der Nähe des bücherraums f. Die Bibliothek bittet darum, das Buch mit Sorgfalt zu behandeln, was ihm, 1964 entliehen, gemäss seinem jetzigen Zustand durchaus angediehen worden ist. Das Schweizer Singbuch des Schulamts Herzogenmühl weist auf dem Laufzettel für 1974 immerhin drei Ausleihen aus; ob seither das Singen im Schulamt gelitten hat, darüber schweigt der Band.

Kochbücher werden gerne annotiert oder ergänzt. Das Kochbuch für den hauswirtschaftlichen Unterricht in Volks- und Fortbildungsschulen der Schuldirektion Bern, 15. Auflage, enthält ein zusätzliches handschriftliches Rezept, dazu ein silbernes Edelweiss, offenbar einst von Ida S. aus Spiez liebevoll gepresst. Auch dem Buch der Hauswirtschaft liegen etliche handschriftliche Rezepte bei. Der voluminöse Band trägt den Untertitel Arbeit und Leben im Haushalt und Heim und stammt von Hedwig Lotter, einer einst recht bekannten Journalistin mit offenbar faszinierendem Lebenslauf. Hedwig-Alice Lotter-Schmidt (1876-1955) wurde in Rumänien geboren und wuchs in Aarau auf. Sie studierte in Neuenburg, wurde mit 27 Jahren Witwe und allein erziehende Mutter dreier kleiner Kinder. Nach kurzer Lohnarbeit in einer Bank begann sie als eine der ersten Frauen in der Schweiz als Journalistin zu arbeiten, mit stark sozialem Einschlag, was sie auch während und nach den beiden Weltkriegen in der Flüchtlingshilfe bezeugte. Neben dem Buch der Hauswirtschaft (1934) verfasste sie 1944 auch ein Leben und Wirken der Frauen in der Schweiz, erschienen im Hamed Verlagswerk Zürich, über das sich bei einer flüchtigen Internet-Recherche nichts Weiteres ausfindig machen lässt. Worauf einen das Bedauern einholt, den Band für die Frauenbibliothek schema f nicht mitgenommen zu haben.

Psychodramen

Ein Psychodrama verbirgt sich womöglich hinter einer Ausgabe der Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hasek, laut Widmung einem Sohn – oder, nachträglicher Gedanke, einer Tochter? – zum 24. Geburtstag von den Eltern geschenkt. Wollten die Eltern damit sagen: Stell endlich die Flausen ein und werde ein normal funktionierender Mann? Oder wäre es, eher unerwartet, die Aufforderung, es Schwejk gleichzutun und sich den herkömmlichen Anordnungen und Anforderungen tolpatschig-subversiv zu verweigern? Mit einer Widmung versehen ist auch das Aufsehen erregendste Buch im Angebot: Alfred Tschimpke: Die Geister-Division. Mit der Panzerwaffe durch Frankreich und Belgien. 1940 bei einem NSDAP-Verlag erschienen, mit der Widmung: «Meinem lieben Lothar, Kriegs-Ostern 1941. Mutter». Nun kann man, hoffentlich, dem Spender keine entsprechende Gesinnung anlasten, denn gleich daneben steht die kritische Entlarvungs-Biografie über Hitler von Konrad Heiden. Und dennoch ist es nicht ganz geheuer, dass gedacht wird, ein solches Buch könnte in der Zürcher Landschaft auf Interesse stossen.

Von der Horror- zur Kulturgeschichte. Gleich zweimal findet sich auf den Tischen C.W. Cerams Buch der Archäologie, Götter, Gräber und Gelehrte, neben etlichen Time-Life-Büchern zu den Grosskulturen der Menschheit. Wie wurde das in der Jugend verschlungen, und wie hat es sogar kurzzeitig einen Berufswunsch befeuert. Aber als kürzlich die sorgsam bewahrte Ausgabe einem Jugendlichen ausgeliehen wurde, der sich wegen seiner Herkunft durchaus fürs historische Mesopotamien interessiert, stiess das Buch nicht auf viel Begeisterung. Womöglich war es ihm doch zu langfädig, und so begnügt er sich weiter mit youTube-Filmen von GeschichteundMythologie, die inhaltlich erstaunlich gut und visuell erstaunlich altmodisch sind.

Als ein Zeichen früher Globalisierung kann ein kleines Kinderbüchlein gelten: Tom&Jerry meet Little Quack, offensichtlich auf Englisch, laut Impressum 1973 in Singapur gedruckt und mit einem Finnair-Sticker versehen, die, so vermeldet wiederum Wikipedia, die sechstälteste noch operierende Fluggesellschaft der Welt ist.

Nach diesem durchaus erschöpfenden Durchgang durch solche weit reichenden Geschichten findet sich dann für den bücherraum f, neben Etty Hillesum, ein weiteres Buch, und zwar Dorf an der Grenze von Aline Valangin. Der Roman steht zwar in der ersten posthumen Ausgabe von 1982 aus dem Limmatverlag zuhause in der Bibliothek, aber die schmucke Neuausgabe im Limmatverlag ergänzt jetzt die Bestände im bücherraum f. Dort ebenfalls nachzulesen ist der schöne Beitrag von Caroline Arni zu Aline Valagin im Sammelband Projekt Schweiz aus dem Unionsverlag. Was, den kennen Sie nicht? Diese Bildungslücke sollten Sie sofort schliessen.

Stefan Howald

 

 

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Wir wollen bessere Bücher

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In den Körper eingeschrieben

Auf der Suche nach verlegten Büchern: Darum ging es kürzlich im bücherraum f mit der Historikerin und Autorin Caroline Arni. Entlang den eigenen Lektüren stellte sie fünf Bücher vor, leuchtend und erhellend. Der Podcast lässt sich hier nachhören.

Die besprochenen Bücher:

  • Claire Lispector: Nahe dem wilden Herzen. Übers. Ray-Güde Mertin. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.
  • Simone Weil: Fabriktagebuch. Aus dem Französischen von Heinz Abosch. Mit einem Vorwort von Albertine Thévenon. suhrkamp taschenbuch 4991. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
  • Esther Fischer-Homberger: Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Huber, Bern 1979.
  • Barbara Duden: Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730. Klett-Cotta, Stuttgart 1987.
  • Rahel Hutmacher: Tochter. Luchterhand, Darmstadt 1983.

Von Caroline Arni ist jüngst erschienen:

  • Caroline Arni: Lauter Frauen. Zwölf historische Porträts. Echtzeit Verlag, Basel, 2. Auflage 2022.
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Ein Menschen- und Bücherfreund – Pierre Franzen zum Gedenken

Von Stefan Howald

2017 war Pierre Franzen einer der Mitgründer des bücherraums f. 1981 hatte er die Zeitschrift «Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik» in Zürich mitgegründet und sie über dreissig Jahre lang geprägt. Die Bücher, die sich in dieser Zeit ansammelten, bildeten den Grundstock für die Politisch-Philosophische Bibliothek im bücherraum f.

Am 8. Oktober 2023 ist Pierre Franzen im Alter von 77 Jahren verstorben. Im Februar 2024 haben Freundinnen und Freunde in einer öffentlichen Veranstaltung seiner gedacht. Im Folgenden möchte ich ein paar Fotografien von und zu Pierre zeigen, aus seinem Leben, seinen Freundschaften, seiner Arbeit. Dabei werde ich gegen Schluss auch auf einige der Bücher aus seinem Besitz zu sprechen kommen, die sich jetzt im bücherraum f befinden und die auch etwas über ihn als Menschen aussagen.

Ich beginne mit einem Jugendbild. Da ist Pierre etwa 17-jährig, Pfadfinder und Roverleiter. Man sieht seinen entschiedenen Blick, auf die konkret anstehende Aufgabe gerichtet, aber darüber hinaus in die Zukunft schweifend, vielleicht schon auf der Suche nach Ernst Blochs Geist der Utopie.

Diese beiden Bilder zeigen ihn um die Maturzeit herum, 1966, sagen wir der Dramaturgie wegen: vor und nach der Matura. Links, im Kollegium Brig wirkt er noch katholisch vergeistigt, doch dann zieht es ihn von der Rhone an die Rive Gauche. Nun tritt er existentialistisch angehaucht auf, mit Bärtchen und natürlich mit Jean-Paul-Sartre-Pfeife.

Jetzt, wir sind wohl um 1968 herum, ist der Schnauz gewachsen, das Haar Pierre-mässig ungebärdiger geworden. Dazu passt ein Lied von Robbie Robertson über Hoffnungen und Träume: We had dreams when the night was young / we were dreamers when the night was young / we could change the world stop the war / never seen nothing like this before / but that was back when the night was young

Die Träume müssen natürlich durch die Kritik hindurch. Davon sollte das Filmprojekt übers Wallis handeln, von dem sein Freund Frank Garbely erzählt hat, über den Walliser «Klerikofaschismus», mit dem Filmer Jürg Hassler und mit Guido Hischier. Das Vorhaben hat auch in Berlin, wohin Pierre 1971 übergesiedelt war, noch für nächtlichen Gesprächsstoff gesorgt, hier etwa mit dem Literaturwissenschaftler und Filmer Walo Deuber, der sich ebenfalls am Projekt beteiligte. Die Bilder sind mittlerweile farbig geworden. Von diesem Polit- und Filmprojekt ist bislang nur wenig Material öffentlich geworden, aber es wird nächstens eine Rolle spielen in einer Dokumentation von Marem Hassler.

In Berlin ist Pierre Mitte der 1970er-Jahre in die Redaktion der Zeitschrift «Sozialistische Politik» Sopo eingetreten, aber die Zeitschrift ist bald eingestellt worden, rechts die letzte Nummer von 1978, und auf dem Titelblatt hat Pierre kräftig «falsch» hingeschrieben und eingekreist – ich hab nicht eruieren können, ob damit die politische Linie oder das Cover oder vermutlich doch die Liquidierung der Zeitschrift gemeint war.

Zurück in Zürich hat er sich ab 1979 im Bermudadreieck von Aussersihl bewegt, an der Zurlindenstrasse und in der Wohnung von Guido Hischier an der Zentralstrasse 165. Und er hat natürlich die Zeitschrift Widerspruch https://widerspruch.ch/mit gegründet, die er jahrzehntelang geprägt hat und die sein Leben geprägt hat.

Man darf Guido über die Jahrzehnte hinweg wohl als seinen engsten Freund bezeichnen, und 1991 hat der seine Erstlingswerke in der Coiffeur-Galerie Simone an der Münstergasse 25 im Zürcher Niederdorf gezeigt. Hingewiesen sei auf die Getränke im Vordergrund, die eine gewisse, nicht ganz typische Walliser Enthaltsamkeit andeuten.

Apropos Guidos Werk: Sein grosser “Salto Mortadella” setzt Stationen einer Politisierung grell in acht Bilder, wobei in der Mitte unverkennbar Pierre zu erkennen ist.

Das ist ein Bild, so wie Pierre vielen von uns im Gedächtnis geblieben ist, mit Gilet, wildem Haar und scharfer Brille, oder dann in der Lederjacke, zu der die Ledertasche mit den neusten «Widerspruch»-Nummern passte, die er allen, die er antraf, mehr oder weniger sanft ans Herz und in die Hand legte. In dieser Rolle hat er sich ja dann immer mehr einer anderen linken Ikone in Zürich angenähert, nämlich Theo Pinkus.

Pierre war ein unersättlicher Leser und Korrespondent. Entsprechend hat er viele Kontakte gepflegt. Berüchtigt war in der «Widerspruch»-Redaktion seine Ablage für den Posteingang, bei der wir immer gerätselt haben, wie er darin den Zusammenhang der Dinge festhalten konnte. Kaum vorstellbar, wohin ihn die zeitgenössische Flut der E-Mails gespült hätte. Allerdings hat die analoge Ablage in ihrer Wellenform, in der sich die Geschichte abgezeichnet hat, gegenüber der flüchtig-banalen Form der digitalen Kommunikation eine geradezu ästhetische Qualität.

Nach dem Lesen kam das Diskutieren und Debattieren und Disputieren. Auch da war er unersättlich und unermüdlich. Systematisch hat er die Argumente des Gegenübers abgeklopft, denn nur durch eine gesunde Skepsis schreiten wir voran.

Wir können nicht von Pierre sprechen, ohne von Beatriz zu sprechen. Gut vierzig Jahre lang haben sie zusammen gelebt, sich gegenseitig gefördert, gestützt und getragen.

Dazu gehörten auch das Haus und die Ferien in Sardinien. Neben dem Element der Theorie hat sich Pierre vor allem im Element Wasser wohl gefühlt; und er hat mich einmal damit überrascht, dass er das, nur halb im Scherz, seinem Sternzeichen Fische zugeschrieben hat; aber der Historische Materialismus erklärt ja tatsächlich nicht alles.

 

 

 

 

Achtung: Links tagt eine «Widerspruch»-Gruppe 2005. Es gibt ein zählebiges Gerücht, dass die Linke ein wenig lustfeindlich ist, was natürlich nicht stimmt, wie man an diesem ebenso gediegenen wie lauschigen Nachtessen sieht. Der Ort, an dem das Haus in Basel steht, heisst übrigens passend Gärtnerstrasse.

Rechts findet eine weitere Redaktionsgruppensitzung statt, diesmal in der Zürcher Agglomeration, und womöglich mag es am Versammlungsort liegen, dass das Team schon ein bisschen abgekämpft aussieht.

Hier sehen wir Pierre in der Galerie Jodok in Brig, die von Ernst Adam Wyden geführt worden ist, und in der auch Bilder von Guido ausgestellt worden sind. Man beachte den Doppelmeter im Vordergrund, ein schönes Symbol dafür, wie Pierre Bilder und Ideen genaustens vermessen hat.

Wenn man von Pierre spricht, dann kam man auch von der Krankheit nicht schweigen, die sein letztes Jahrzehnt überschattet hat. Auf der unteren Fotografie sieht man ihn mit zwei Menschen, die ihm in dieser Zeit am wichtigsten waren und wurden, neben Beatriz seine jüngere Schwester Nicole, ebenso wie die ältere Schwester Danielle.

Ein Blick ins Atelier des Weltgeistes in Ebmatingen. Sichtbar wird die Vielfalt der Interessen und Tätigkeiten. An der Wand sieht man eine seiner Zeichnungen, diese beinahe japanischen Kalligrafien, von denen wir einige zusammen mit einigen Gedichten zu einem kleinen Büchlein zusammengestellt haben.

Nun kommen wir zu den Büchern von Pierre. Es gab in seiner Wohnung an der Zurlindenstrasse mit der Zeit ein Problem, wegen übermässiger Belastung des Bodens durch zu viele Bücher und entsprechender Brandgefahr. Deshalb wurden die Bücher in ein Nebenzimmer zum Redaktionsraum des «Widerspruchs» an der Quellenstrasse transportiert. Dort häuften sie sich mit den Jahren weiter auf, ausser Pierre hatte niemand den Überblick, und so konnten diese Bücher auch keine weiteren LeserInnen finden.

Dieses erstaunlicherweise noch nicht ganz gefüllte Gestell zeigt die Weite und Vielfalt der Sammlung: Oben links unverkennbar die braunen Lenin-Bände, inklusive, eine fotografisch angeschnittene, Lenin-Büste, die mit an die Jungstrasse gezügelt worden, mittlerweile aber in einen Kasten weggesperrt worden ist. Zuunterst verschiedene ältere Ausgaben des «Widerspruch», nicht ganz pfleglich behandelt, in der Mitte schliesslich das beinahe unvergleichliche Lexikon der Philosophie in den verschiedenen Formen, die es im Lauf der Zeit und mit fortschreitendem Alphabet angenommen hat.

2017 musste auch dieser Raum aufgegeben werden, und angesichts der Schreckensvision, Bücher zu entsorgen, entstand die Idee einer kleinen Bibliothek. Wir haben uns dann mit einer anderen bereits bestehenden Bibliothek, der frauenlesbenbibliothek schema f zusammengetan, die auch einen neuen Raum suchte, und haben schliesslich in Zürich beim Bahnhof Zürich Oerlikon einen passenden Raum gemietet. So entstand der bücherraum f an der Jungstrasse 9.

Im Herbst 2017 galt es dann ernst. Rund 8000 Bücher hatten sich angesammelt. Einiges, aber nur weniges, wurde mit blutendem Herzen weggegeben, das meiste wurde in die unentbehrlichen Tragtaschen unserer Grossverteiler gefüllt.

 

Hierauf zogen die Tragtaschen mit den Büchern im bücherraum f an der Jungstrasse ein. Interessanterweise haben sich beim Transport offenbar die Gewichte verschoben, vom genossenschaftlich-gewerkschaftlichen Grossverteiler zum genossenschaftlich-sozialkapitalen Grossverteiler, aber wir wollen das grosszügig übersehen, da sie sich ja mittlerweile wie ein Bio-Ei dem andern gleichen.

Wer kennt die Namen, nennt die Seufzer, die eine systematische Anordnung der doch eher eklektisch gesammelten Bücher mit sich brachten. Ist Wolfgang Fritz Haug, bei dem Pierre in Berlin einst Assistent gewesen war, bei Kritischem Marxismus oder Kritischer Philosophie einzuordnen? Wie sieht es mit der dokumentarischen Literatur aus: Wollen wir sie als dokumentarische der Geschichte subsumieren oder unter Literatur belassen und sie so womöglich entpolitisieren?

Noch kaum eingeräumt, und schon gibts eine Arbeitspause. Immerhin sind bereits zwei zentrale Dinge sichtbar, einerseits Pierres Dossiers hinten links und andererseits das schöne «Widerspruch»-Plakat aus dem Jahr 2001, mit dem wir 40 Nummern feierten. Wie denn die Sammlung innerhalb des bücherraums heissen sollte, hat zu epischen Diskussionen geführt, die jenen Anfang 1981, als es um die Benennung des «Widerspruchs» ging, in Intensität und Länge kaum nachstanden. Schliesslich haben wir uns mit durchaus berechtigtem Anspruch Politisch-Philosophische Bibliothek genannt, die ursprünglichen 8000 Bücher und Dokumente sind mittlerweile auf rund 9500 angewachsen, und ich habe umfängliche Korrespondenzen und Gespräche mit Pierre über deren Systematik geführt, die er natürlich viel differenzierter zu gestalten gedachte als ich, so wie sich zum Beispiel der Marxismus längst in Marxismen zergliedert – oder zerlegt? – hatte.

Sehr gelegentlich ist Pierre 2020/21 noch an die Quellenstrasse zur Redaktion «Widerspruch» gekommen, auch in den bücherraum f, im steten Kampf mit der Krankheit. Unsere Diskussionen verfolgte er aufmerksam und verschickte gelegentlich E-Mails als präzise Interventionen Zusätzliche Bücher, die unbedingt noch in die schon überquellenden Regale gehörten, hat dann vor allem ein hilfreicher Nachbar an die Jungstrasse gebracht.

 

 

Im Folgenden möchte ich ein paar, ganze wenige, Bücher und Materialien präsentieren, die mir bei einem kurzen Rundgang durch die Bibliothek in die Hände gefallen sind.

Da sind, erstens, die Dossiers. Genau 78 Schachteln stehen im bücherraum f, in der Redaktion des «Widerspruch» gibt es nochmals etliche davon. Sie sind entweder zu Nummern des «Widerspruchs» oder zu bestimmten Personen und Themen angelegt und enthalten Zeitungsausschnitte, Korrespondenzen, Manuskripte, Zeitschriften. Es sind historische Dokumente, die einer Auswertung harren.

Unter den Büchern sind besonders spannend Raubdrucke, die Pierre erworben hat, schon in Zürich 1969/70, dann vor allem in Berlin. Etwa zur kritischen Theorie, zu Adorno, Horkheimer, Habermas, auch zu Lukacs und Wilhelm Reich. Wir sehen übrigens rechts, dass er sie 1969 noch mit der Signatur Pierre Alain Franzen in Besitz genommen hat; das hat er dann relativ schnell abgelegt und die Signatur und sich zum knappen PF verkürzt.

Wie wir alle wollte Pierre mal Antiquar werden und ist prophylaktisch durch Antiquariate gezogen. Hier zwei Fundstücke, die ein weites Themenfeld aufspannen. Erstens die Zensurbibel der römischen Kirche, ein unglaubliches Werk, in dem allerdings Marx nicht als Verdammter auftaucht, da er wohl jenseits aller Vorstellungen lag; auf der andern Seite hat Pierre Bücher über Marx natürlich in verschiedenen Versionen gesammelt, da diese minutiöse Abweichungen in der verwendeten Terminologie enthalten könnten.

Im Buch rechts vereinen sich nochmals diese zwei bei Pierre in unterschiedlicher Form wirkungsmächtigen Strömungen. Der Soziologe Ernst Troeltsch hat darin «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» aufgearbeitet; das Buch befand sich einst im Besitz des Zentralsekretariats der Sozialdemokratischen Partei, wurde später ausgeschieden (durchgestrichen, wie der von Pierre so geschätzte Louis Althusser anmerken würde), und wird jetzt bei uns in der Politischen Philosophie aufbewahrt.

Pierre hat seine Bücher angeschrieben, zuweilen sogar den Erwerb datiert, was angesichts der proudhonʼschen Maxime, dass Eigentum Diebstahl sei, ein nicht ganz unproblematisches Verhalten war; uneingeschränkt bewundernswert ist hingegen die Mühe und Sorgfalt, die er beim Durcharbeiten der Texte aufwendete, wie sich an seinen Unterstreichungen und Anmerkungen unschwer erkennen lässt. Zu dieser Sorgfalt gehörte auch das Studium mehrsprachiger Ausgaben. Für Französisch war das selbstverständlich, aber gelegentlich griff Pierre auch auf englische, später italienische und spanische Originalausgaben zurück.

An diesen Ausgaben eines Achtundsechzigundfolgende wichtigen Werks von Georg Lukacs zeigt sich der Lauf der Zeit; einst ist es in einem renommierten Verlag erschienen, musste dann als Raubdruck vorrätig gehalten werden; zu einer bestimmten Zeit war dieses hoch theoretische und hoch marxistische Werk, wie sich dem Vermerk entnehmen lässt, sogar in der Zürcher Pestalozzibibliothek vorhanden, was heute wohl unvorstellbar ist.

Reizvoll in der Sammlung sind signierte Bücher. Etwa dieses hier von Herbert Marcuse, aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Widmung nicht eigentlich Pierre galt, sondern an Theo Pinkus gerichtet war; Pierre hat halt aus verschiedenen Sammlungen Bücher zusammenstellen können. Natürlich gibt es auch Bücher mit Widmungen, die ihm gelten, zum Beispiel von André Gorz.

André Gorz, der österreichisch-französische Philosoph und frühe Ökologe war eine der wichtigsten Beziehungen von Pierre; immer wieder hat er ihn für Beiträge für den «Widerspruch» gewinnen können. Ich habe hier Briefe aus den Jahren 1986 bis 2001 zusammengestellt, die doch auch einen kleinen Beitrag zur intellektuellen Geschichte dieser Zeit darstellen.

       

Soweit ein paar Impressionen. Pierre wird uns als Mensch und Freund in Erinnerung bleiben. Im bücherraum f stehen 8000 Bücher und Dokumente, die mit ihm verknüpft sind, und auch sie werden das Andenken an ihn festhalten.

 

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Den Mut, den wir brauchen

Sie hat manche provoziert und viele angeregt. Dorothee Sölle (1929-2003) war über Jahrzehnte wohl die bekannteste deutschsprachige Theologin. Geistliche Texte mit lästigen politischen Fragen hat sie verfasst, für ein neues kritisches Christentum. In der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung war sie tätig und wollte damit das Eis der Seele spalten. Auch heute bleibt Sölle eine Mahnung und eine Ermutigung. Die Zeitschrift Neue Wege – Religion.Sozialismus.Kritik gedachte ihrer zum zwanzigsten Todestag mit verschiedenen Veranstaltungen. Im bücherraum f haben die Co-RedaktionsleiterInnen Geneva Moser und Matthias Hui Originaltexte von Sölle präsentiert und im Zwiegespräch über deren bewegende Energie geredet.

Der Podcast lässt sich hier nachhören. Für den bücherraum f leitet Stefan Howald ein.

 

Die beiden GesprächsteilnehmerInnen

Geneva Moser

Geneva Moser, Jahrgang 1988 und aufgewachsen im Kanton Aargau, besuchte ab dem 12. Lebensjahr das Internat des Klosters Wurmsbach am Zürichsee, das damals von Zisterzienserinnen geführt wurde. Sie ist Philosophin, Geschlechterforscherin und hat literarisches Schreiben studiert. Ab 2019 bildete sie sich als Yogalehrerin und Tanz- und Bewegungstherapeutin weiter. Geneva Moser bietet unter Theorie in Bewegung Workshops, Vorträge und Bewegungsformate mit queer_feministischem Schwerpunkt an und ist und Mitinitiantin des Vereins Somatic Kin. Queer_feministisches Tanz-, Körper- und Bewegungsstudio. Von 2022 bis 2023 hat sie als Postulantin in der Abtei St. Hildegard gelebt.

Seit 2018 ist sie Co-Redaktionsleiterin der Neuen Wege. Die religiös-soziale Tradition der Zeitschrift, die Zusammenarbeit in der Redaktion, der Kontakt mit den Autor*innen und besonders auch die Veranstaltungen als Begegnungsorte bedeuten ihr viel.

Matthias Hui

Matthias Hui, geboren 1962, ist Theologe und Menschenrechtsspezialist. Er hat beim HEKS gearbeitet, dann, ab 2013 bei «humanrights.ch», einer NGO, die Knowhow zur Verfügung stellt, damit die Menschenrechte in der Schweiz und von der Schweiz aus durchgesetzt und weiterentwickelt werden können. Zwischen 2018 und Ende September 2023 war er dort Koordinator der Plattform Menschenrechte Schweiz. Er war Mitglied der vom Bund koordinierten Arbeitsgruppe zur Konstituierung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI und ist seit dem 23. Mai 2023 gewähltes Vorstandsmitglied der neuen SMRI.

Matthias Hui ist seit 2013 Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege und freut sich über das gemeinsame Weiterentwickeln der Zeitschrift. Er versteht sich als Grenzgänger zwischen Theologie und Politik, zwischen eigener Suche und kollektiver Praxis. Ihn interessieren Menschen und Bewegungen, die daran glauben, dass die Welt ganz anders gestaltet werden kann –und muss. Und die sich dabei auf alte Traditionen von Befreiung, Gerechtigkeit und Gleichheit sowie auf eigene Erfahrungen beziehen.

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