Ein Menschen- und Bücherfreund – Pierre Franzen zum Gedenken

Von Stefan Howald

2017 war Pierre Franzen einer der Mitgründer des bücherraums f. 1981 hatte er die Zeitschrift «Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik» in Zürich mitgegründet und sie über dreissig Jahre lang geprägt. Die Bücher, die sich in dieser Zeit ansammelten, bildeten den Grundstock für die Politisch-Philosophische Bibliothek im bücherraum f.

Am 8. Oktober 2023 ist Pierre Franzen im Alter von 77 Jahren verstorben. Im Februar 2024 haben Freundinnen und Freunde in einer öffentlichen Veranstaltung seiner gedacht. Im Folgenden möchte ich ein paar Fotografien von und zu Pierre zeigen, aus seinem Leben, seinen Freundschaften, seiner Arbeit. Dabei werde ich gegen Schluss auch auf einige der Bücher aus seinem Besitz zu sprechen kommen, die sich jetzt im bücherraum f befinden und die auch etwas über ihn als Menschen aussagen.

Ich beginne mit einem Jugendbild. Da ist Pierre etwa 17-jährig, Pfadfinder und Roverleiter. Man sieht seinen entschiedenen Blick, auf die konkret anstehende Aufgabe gerichtet, aber darüber hinaus in die Zukunft schweifend, vielleicht schon auf der Suche nach Ernst Blochs Geist der Utopie.

Diese beiden Bilder zeigen ihn um die Maturzeit herum, 1966, sagen wir der Dramaturgie wegen: vor und nach der Matura. Links, im Kollegium Brig wirkt er noch katholisch vergeistigt, doch dann zieht es ihn von der Rhone an die Rive Gauche. Nun tritt er existentialistisch angehaucht auf, mit Bärtchen und natürlich mit Jean-Paul-Sartre-Pfeife.

Jetzt, wir sind wohl um 1968 herum, ist der Schnauz gewachsen, das Haar Pierre-mässig ungebärdiger geworden. Dazu passt ein Lied von Robbie Robertson über Hoffnungen und Träume: We had dreams when the night was young / we were dreamers when the night was young / we could change the world stop the war / never seen nothing like this before / but that was back when the night was young

Die Träume müssen natürlich durch die Kritik hindurch. Davon sollte das Filmprojekt übers Wallis handeln, von dem sein Freund Frank Garbely erzählt hat, über den Walliser «Klerikofaschismus», mit dem Filmer Jürg Hassler und mit Guido Hischier. Das Vorhaben hat auch in Berlin, wohin Pierre 1971 übergesiedelt war, noch für nächtlichen Gesprächsstoff gesorgt, hier etwa mit dem Literaturwissenschaftler und Filmer Walo Deuber, der sich ebenfalls am Projekt beteiligte. Die Bilder sind mittlerweile farbig geworden. Von diesem Polit- und Filmprojekt ist bislang nur wenig Material öffentlich geworden, aber es wird nächstens eine Rolle spielen in einer Dokumentation von Marem Hassler.

In Berlin ist Pierre Mitte der 1970er-Jahre in die Redaktion der Zeitschrift «Sozialistische Politik» Sopo eingetreten, aber die Zeitschrift ist bald eingestellt worden, rechts die letzte Nummer von 1978, und auf dem Titelblatt hat Pierre kräftig «falsch» hingeschrieben und eingekreist – ich hab nicht eruieren können, ob damit die politische Linie oder das Cover oder vermutlich doch die Liquidierung der Zeitschrift gemeint war.

Zurück in Zürich hat er sich ab 1979 im Bermudadreieck von Aussersihl bewegt, an der Zurlindenstrasse und in der Wohnung von Guido Hischier an der Zentralstrasse 165. Und er hat natürlich die Zeitschrift Widerspruch https://widerspruch.ch/mit gegründet, die er jahrzehntelang geprägt hat und die sein Leben geprägt hat.

Man darf Guido über die Jahrzehnte hinweg wohl als seinen engsten Freund bezeichnen, und 1991 hat der seine Erstlingswerke in der Coiffeur-Galerie Simone an der Münstergasse 25 im Zürcher Niederdorf gezeigt. Hingewiesen sei auf die Getränke im Vordergrund, die eine gewisse, nicht ganz typische Walliser Enthaltsamkeit andeuten.

Apropos Guidos Werk: Sein grosser “Salto Mortadella” setzt Stationen einer Politisierung grell in acht Bilder, wobei in der Mitte unverkennbar Pierre zu erkennen ist.

Das ist ein Bild, so wie Pierre vielen von uns im Gedächtnis geblieben ist, mit Gilet, wildem Haar und scharfer Brille, oder dann in der Lederjacke, zu der die Ledertasche mit den neusten «Widerspruch»-Nummern passte, die er allen, die er antraf, mehr oder weniger sanft ans Herz und in die Hand legte. In dieser Rolle hat er sich ja dann immer mehr einer anderen linken Ikone in Zürich angenähert, nämlich Theo Pinkus.

Pierre war ein unersättlicher Leser und Korrespondent. Entsprechend hat er viele Kontakte gepflegt. Berüchtigt war in der «Widerspruch»-Redaktion seine Ablage für den Posteingang, bei der wir immer gerätselt haben, wie er darin den Zusammenhang der Dinge festhalten konnte. Kaum vorstellbar, wohin ihn die zeitgenössische Flut der E-Mails gespült hätte. Allerdings hat die analoge Ablage in ihrer Wellenform, in der sich die Geschichte abgezeichnet hat, gegenüber der flüchtig-banalen Form der digitalen Kommunikation eine geradezu ästhetische Qualität.

Nach dem Lesen kam das Diskutieren und Debattieren und Disputieren. Auch da war er unersättlich und unermüdlich. Systematisch hat er die Argumente des Gegenübers abgeklopft, denn nur durch eine gesunde Skepsis schreiten wir voran.

Wir können nicht von Pierre sprechen, ohne von Beatriz zu sprechen. Gut vierzig Jahre lang haben sie zusammen gelebt, sich gegenseitig gefördert, gestützt und getragen.

Dazu gehörten auch das Haus und die Ferien in Sardinien. Neben dem Element der Theorie hat sich Pierre vor allem im Element Wasser wohl gefühlt; und er hat mich einmal damit überrascht, dass er das, nur halb im Scherz, seinem Sternzeichen Fische zugeschrieben hat; aber der Historische Materialismus erklärt ja tatsächlich nicht alles.

 

 

 

 

Achtung: Links tagt eine «Widerspruch»-Gruppe 2005. Es gibt ein zählebiges Gerücht, dass die Linke ein wenig lustfeindlich ist, was natürlich nicht stimmt, wie man an diesem ebenso gediegenen wie lauschigen Nachtessen sieht. Der Ort, an dem das Haus in Basel steht, heisst übrigens passend Gärtnerstrasse.

Rechts findet eine weitere Redaktionsgruppensitzung statt, diesmal in der Zürcher Agglomeration, und womöglich mag es am Versammlungsort liegen, dass das Team schon ein bisschen abgekämpft aussieht.

Hier sehen wir Pierre in der Galerie Jodok in Brig, die von Ernst Adam Wyden geführt worden ist, und in der auch Bilder von Guido ausgestellt worden sind. Man beachte den Doppelmeter im Vordergrund, ein schönes Symbol dafür, wie Pierre Bilder und Ideen genaustens vermessen hat.

Wenn man von Pierre spricht, dann kam man auch von der Krankheit nicht schweigen, die sein letztes Jahrzehnt überschattet hat. Auf der unteren Fotografie sieht man ihn mit zwei Menschen, die ihm in dieser Zeit am wichtigsten waren und wurden, neben Beatriz seine jüngere Schwester Nicole, ebenso wie die ältere Schwester Danielle.

Ein Blick ins Atelier des Weltgeistes in Ebmatingen. Sichtbar wird die Vielfalt der Interessen und Tätigkeiten. An der Wand sieht man eine seiner Zeichnungen, diese beinahe japanischen Kalligrafien, von denen wir einige zusammen mit einigen Gedichten zu einem kleinen Büchlein zusammengestellt haben.

Nun kommen wir zu den Büchern von Pierre. Es gab in seiner Wohnung an der Zurlindenstrasse mit der Zeit ein Problem, wegen übermässiger Belastung des Bodens durch zu viele Bücher und entsprechender Brandgefahr. Deshalb wurden die Bücher in ein Nebenzimmer zum Redaktionsraum des «Widerspruchs» an der Quellenstrasse transportiert. Dort häuften sie sich mit den Jahren weiter auf, ausser Pierre hatte niemand den Überblick, und so konnten diese Bücher auch keine weiteren LeserInnen finden.

Dieses erstaunlicherweise noch nicht ganz gefüllte Gestell zeigt die Weite und Vielfalt der Sammlung: Oben links unverkennbar die braunen Lenin-Bände, inklusive, eine fotografisch angeschnittene, Lenin-Büste, die mit an die Jungstrasse gezügelt worden, mittlerweile aber in einen Kasten weggesperrt worden ist. Zuunterst verschiedene ältere Ausgaben des «Widerspruch», nicht ganz pfleglich behandelt, in der Mitte schliesslich das beinahe unvergleichliche Lexikon der Philosophie in den verschiedenen Formen, die es im Lauf der Zeit und mit fortschreitendem Alphabet angenommen hat.

2017 musste auch dieser Raum aufgegeben werden, und angesichts der Schreckensvision, Bücher zu entsorgen, entstand die Idee einer kleinen Bibliothek. Wir haben uns dann mit einer anderen bereits bestehenden Bibliothek, der frauenlesbenbibliothek schema f zusammengetan, die auch einen neuen Raum suchte, und haben schliesslich in Zürich beim Bahnhof Zürich Oerlikon einen passenden Raum gemietet. So entstand der bücherraum f an der Jungstrasse 9.

Im Herbst 2017 galt es dann ernst. Rund 8000 Bücher hatten sich angesammelt. Einiges, aber nur weniges, wurde mit blutendem Herzen weggegeben, das meiste wurde in die unentbehrlichen Tragtaschen unserer Grossverteiler gefüllt.

 

Hierauf zogen die Tragtaschen mit den Büchern im bücherraum f an der Jungstrasse ein. Interessanterweise haben sich beim Transport offenbar die Gewichte verschoben, vom genossenschaftlich-gewerkschaftlichen Grossverteiler zum genossenschaftlich-sozialkapitalen Grossverteiler, aber wir wollen das grosszügig übersehen, da sie sich ja mittlerweile wie ein Bio-Ei dem andern gleichen.

Wer kennt die Namen, nennt die Seufzer, die eine systematische Anordnung der doch eher eklektisch gesammelten Bücher mit sich brachten. Ist Wolfgang Fritz Haug, bei dem Pierre in Berlin einst Assistent gewesen war, bei Kritischem Marxismus oder Kritischer Philosophie einzuordnen? Wie sieht es mit der dokumentarischen Literatur aus: Wollen wir sie als dokumentarische der Geschichte subsumieren oder unter Literatur belassen und sie so womöglich entpolitisieren?

Noch kaum eingeräumt, und schon gibts eine Arbeitspause. Immerhin sind bereits zwei zentrale Dinge sichtbar, einerseits Pierres Dossiers hinten links und andererseits das schöne «Widerspruch»-Plakat aus dem Jahr 2001, mit dem wir 40 Nummern feierten. Wie denn die Sammlung innerhalb des bücherraums heissen sollte, hat zu epischen Diskussionen geführt, die jenen Anfang 1981, als es um die Benennung des «Widerspruchs» ging, in Intensität und Länge kaum nachstanden. Schliesslich haben wir uns mit durchaus berechtigtem Anspruch Politisch-Philosophische Bibliothek genannt, die ursprünglichen 8000 Bücher und Dokumente sind mittlerweile auf rund 9500 angewachsen, und ich habe umfängliche Korrespondenzen und Gespräche mit Pierre über deren Systematik geführt, die er natürlich viel differenzierter zu gestalten gedachte als ich, so wie sich zum Beispiel der Marxismus längst in Marxismen zergliedert – oder zerlegt? – hatte.

Sehr gelegentlich ist Pierre 2020/21 noch an die Quellenstrasse zur Redaktion «Widerspruch» gekommen, auch in den bücherraum f, im steten Kampf mit der Krankheit. Unsere Diskussionen verfolgte er aufmerksam und verschickte gelegentlich E-Mails als präzise Interventionen Zusätzliche Bücher, die unbedingt noch in die schon überquellenden Regale gehörten, hat dann vor allem ein hilfreicher Nachbar an die Jungstrasse gebracht.

 

 

Im Folgenden möchte ich ein paar, ganze wenige, Bücher und Materialien präsentieren, die mir bei einem kurzen Rundgang durch die Bibliothek in die Hände gefallen sind.

Da sind, erstens, die Dossiers. Genau 78 Schachteln stehen im bücherraum f, in der Redaktion des «Widerspruch» gibt es nochmals etliche davon. Sie sind entweder zu Nummern des «Widerspruchs» oder zu bestimmten Personen und Themen angelegt und enthalten Zeitungsausschnitte, Korrespondenzen, Manuskripte, Zeitschriften. Es sind historische Dokumente, die einer Auswertung harren.

Unter den Büchern sind besonders spannend Raubdrucke, die Pierre erworben hat, schon in Zürich 1969/70, dann vor allem in Berlin. Etwa zur kritischen Theorie, zu Adorno, Horkheimer, Habermas, auch zu Lukacs und Wilhelm Reich. Wir sehen übrigens rechts, dass er sie 1969 noch mit der Signatur Pierre Alain Franzen in Besitz genommen hat; das hat er dann relativ schnell abgelegt und die Signatur und sich zum knappen PF verkürzt.

Wie wir alle wollte Pierre mal Antiquar werden und ist prophylaktisch durch Antiquariate gezogen. Hier zwei Fundstücke, die ein weites Themenfeld aufspannen. Erstens die Zensurbibel der römischen Kirche, ein unglaubliches Werk, in dem allerdings Marx nicht als Verdammter auftaucht, da er wohl jenseits aller Vorstellungen lag; auf der andern Seite hat Pierre Bücher über Marx natürlich in verschiedenen Versionen gesammelt, da diese minutiöse Abweichungen in der verwendeten Terminologie enthalten könnten.

Im Buch rechts vereinen sich nochmals diese zwei bei Pierre in unterschiedlicher Form wirkungsmächtigen Strömungen. Der Soziologe Ernst Troeltsch hat darin «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» aufgearbeitet; das Buch befand sich einst im Besitz des Zentralsekretariats der Sozialdemokratischen Partei, wurde später ausgeschieden (durchgestrichen, wie der von Pierre so geschätzte Louis Althusser anmerken würde), und wird jetzt bei uns in der Politischen Philosophie aufbewahrt.

Pierre hat seine Bücher angeschrieben, zuweilen sogar den Erwerb datiert, was angesichts der proudhonʼschen Maxime, dass Eigentum Diebstahl sei, ein nicht ganz unproblematisches Verhalten war; uneingeschränkt bewundernswert ist hingegen die Mühe und Sorgfalt, die er beim Durcharbeiten der Texte aufwendete, wie sich an seinen Unterstreichungen und Anmerkungen unschwer erkennen lässt. Zu dieser Sorgfalt gehörte auch das Studium mehrsprachiger Ausgaben. Für Französisch war das selbstverständlich, aber gelegentlich griff Pierre auch auf englische, später italienische und spanische Originalausgaben zurück.

An diesen Ausgaben eines Achtundsechzigundfolgende wichtigen Werks von Georg Lukacs zeigt sich der Lauf der Zeit; einst ist es in einem renommierten Verlag erschienen, musste dann als Raubdruck vorrätig gehalten werden; zu einer bestimmten Zeit war dieses hoch theoretische und hoch marxistische Werk, wie sich dem Vermerk entnehmen lässt, sogar in der Zürcher Pestalozzibibliothek vorhanden, was heute wohl unvorstellbar ist.

Reizvoll in der Sammlung sind signierte Bücher. Etwa dieses hier von Herbert Marcuse, aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die Widmung nicht eigentlich Pierre galt, sondern an Theo Pinkus gerichtet war; Pierre hat halt aus verschiedenen Sammlungen Bücher zusammenstellen können. Natürlich gibt es auch Bücher mit Widmungen, die ihm gelten, zum Beispiel von André Gorz.

André Gorz, der österreichisch-französische Philosoph und frühe Ökologe war eine der wichtigsten Beziehungen von Pierre; immer wieder hat er ihn für Beiträge für den «Widerspruch» gewinnen können. Ich habe hier Briefe aus den Jahren 1986 bis 2001 zusammengestellt, die doch auch einen kleinen Beitrag zur intellektuellen Geschichte dieser Zeit darstellen.

       

Soweit ein paar Impressionen. Pierre wird uns als Mensch und Freund in Erinnerung bleiben. Im bücherraum f stehen 8000 Bücher und Dokumente, die mit ihm verknüpft sind, und auch sie werden das Andenken an ihn festhalten.

 

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Den Mut, den wir brauchen

Sie hat manche provoziert und viele angeregt. Dorothee Sölle (1929-2003) war über Jahrzehnte wohl die bekannteste deutschsprachige Theologin. Geistliche Texte mit lästigen politischen Fragen hat sie verfasst, für ein neues kritisches Christentum. In der Friedens-, Frauen- und Umweltbewegung war sie tätig und wollte damit das Eis der Seele spalten. Auch heute bleibt Sölle eine Mahnung und eine Ermutigung. Die Zeitschrift Neue Wege – Religion.Sozialismus.Kritik gedachte ihrer zum zwanzigsten Todestag mit verschiedenen Veranstaltungen. Im bücherraum f haben die Co-RedaktionsleiterInnen Geneva Moser und Matthias Hui Originaltexte von Sölle präsentiert und im Zwiegespräch über deren bewegende Energie geredet.

Der Podcast lässt sich hier nachhören. Für den bücherraum f leitet Stefan Howald ein.

 

Die beiden GesprächsteilnehmerInnen

Geneva Moser

Geneva Moser, Jahrgang 1988 und aufgewachsen im Kanton Aargau, besuchte ab dem 12. Lebensjahr das Internat des Klosters Wurmsbach am Zürichsee, das damals von Zisterzienserinnen geführt wurde. Sie ist Philosophin, Geschlechterforscherin und hat literarisches Schreiben studiert. Ab 2019 bildete sie sich als Yogalehrerin und Tanz- und Bewegungstherapeutin weiter. Geneva Moser bietet unter Theorie in Bewegung Workshops, Vorträge und Bewegungsformate mit queer_feministischem Schwerpunkt an und ist und Mitinitiantin des Vereins Somatic Kin. Queer_feministisches Tanz-, Körper- und Bewegungsstudio. Von 2022 bis 2023 hat sie als Postulantin in der Abtei St. Hildegard gelebt.

Seit 2018 ist sie Co-Redaktionsleiterin der Neuen Wege. Die religiös-soziale Tradition der Zeitschrift, die Zusammenarbeit in der Redaktion, der Kontakt mit den Autor*innen und besonders auch die Veranstaltungen als Begegnungsorte bedeuten ihr viel.

Matthias Hui

Matthias Hui, geboren 1962, ist Theologe und Menschenrechtsspezialist. Er hat beim HEKS gearbeitet, dann, ab 2013 bei «humanrights.ch», einer NGO, die Knowhow zur Verfügung stellt, damit die Menschenrechte in der Schweiz und von der Schweiz aus durchgesetzt und weiterentwickelt werden können. Zwischen 2018 und Ende September 2023 war er dort Koordinator der Plattform Menschenrechte Schweiz. Er war Mitglied der vom Bund koordinierten Arbeitsgruppe zur Konstituierung der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI und ist seit dem 23. Mai 2023 gewähltes Vorstandsmitglied der neuen SMRI.

Matthias Hui ist seit 2013 Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege und freut sich über das gemeinsame Weiterentwickeln der Zeitschrift. Er versteht sich als Grenzgänger zwischen Theologie und Politik, zwischen eigener Suche und kollektiver Praxis. Ihn interessieren Menschen und Bewegungen, die daran glauben, dass die Welt ganz anders gestaltet werden kann –und muss. Und die sich dabei auf alte Traditionen von Befreiung, Gerechtigkeit und Gleichheit sowie auf eigene Erfahrungen beziehen.

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Aufruhr im Äther

Gegen Einheitsbrei und Monopole: Mitte der 1970er-Jahre klangen plötzlich hunderte von PiratInnensender frisch und alternativ in den Ohren. Woher kamen sie, wie und warum enterten sie den Äther? Lässt sich daraus etwas fürs Internet-Zeitalter lernen? Die Historikerin Anne-Christine Schindler nahm im bücherraum f auf einen Streifzug durch die Sound-Archive der Zürcher Radiopirat:innen mit, organisiert von der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung.

Anke Schindlers Vortrag mit vielen Originaleinspielungen ist hier nachzuhören:

Die Masterarbeit von Anne-Christine Schindler trägt den Titel: «Zürcher Radiopirat:innen zwischen Medien- und Kulturpolitik, 1976-1983. Eine Soundgeschichte». Die meisten Tonaufnahmen stammen aus der Datenbank Bild + Ton des Schweizerischen Sozialarchivs, siehe www.sozialarchiv.ch/archiv/recherche/datenbank-bild-ton/

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Anarchie und Politpunk

Bücherräumereien XLIV

Was von uns auch bleibt: Bücher. Tomi Geiger, letztes Jahr viel zu früh verstorben, hat sie in Überfülle besessen, als Buchhändler&Verleger. Und als Leser, selbstverständlich.

Einige davon dürfen jetzt in die Politisch-Philosophische Bibliothek im bücherraum f umziehen. Zwei Themen stechen hervor und interessieren besonders: Anarchismus und Dada. Vielleicht ist das auch nur ein Thema.

Das zeigt sich gleich beim ersten übernommenen Titel, Erich Mühsams «Ascona. Eine Broschüre», mit dem berühmt-berüchtigten Titelbild des nackten Erich bei der Gartenarbeit auf dem Monte Verità. Die Broschüre gesellt sich vorzüglich zu dem schon im bücherraum stehenden Erzählband «Dada, Ascona» von Friedrich Glauser. Die Verlagsgeschichte des Mühsam-Bändchens ist ein bisschen verwirrlich. Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um einen fotomechanischen Nachdruck durch den Verlag Klaus Guhl, Berlin, und zwar in zweiter Auflage. Ohne Erscheinungsjahr. Was sich freilich anderweitig eruieren lässt: 1978. Ursprünglich ist der Band, wie getreulich vermerkt wird, im Verlag von Birger Carlson in Locarno erschienen, ebenfalls ohne Jahreszahl, die sich ebenfalls anderweitig identifizieren lässt: 1905.

Mehrfach vertreten ist der Anarchoökologe Murray Bookchin, etwa mit «Hierarchie und Herrschaft», dazu stehen etliche Bände von Max Nettlau nebeneinander. Der Österreicher Nettlau (1865-1944) war vor allem Bibliomane, Archivar, Bibliograf, mit einer riesigen Sammlung von und umfassendem Wissen über anarchistische Publikationen, und als Dokumentalist des Anarchismus hat er unzählige Artikel über seine Funde und seine entsprechenden Einschätzungen geschrieben. Diese kleineren Arbeiten sind teilweise nur in abgelegenen Zeitschriften oder als Broschüren in Kleinstauflagen erschienen, seit den 1970er-Jahren erneut in abgelegenen Zeitschriften nachgedruckt worden oder vergessen gegangen; manche Manuskripte liegen noch ungedruckt im Nachlass im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam: wahrlich ein zerstreutes Werk.

Liechtenstein und Amsterdam

Nettlaus grosses Hauptwerk war allerdings die «Geschichte der Anarchie», ab 1925 veröffentlicht, auf sieben Bände angelegt, von denen zu Lebzeiten nur drei im Syndikalist-Verlag erschienen sind. Um 1980 wurden die ersten Bände vom Bremer Impuls-Verlag nachgedruckt (ohne Verlagsjahr); etwa zur gleichen Zeit wurden die Bände IV und V als Raubdruck sowie ein «Ergänzungsband» publiziert, vom Topos Verlag in Ruggell/Liechtenstein, der laut Website auf den Nachdruck von Werken spezialisiert ist, deren Copyright vermutlich abgelaufen ist; mit politischer Schlagseite, da sich auch Erich Mühsam, Rudolf Rocker und andere Anarchisten im Programm finden, zu ziemlich saftigen Preisen (Liechtenstein!). Die im Manuskript vorliegenden Bände VI und VII von Nettlau sind weiterhin unveröffentlicht. Seit 2020 hat sich ein Team die Herausgabe aller Bände zur Aufgabe gemacht, und zwar sowohl in gedruckter Form wie auch Online – das wird in einer gediegenen Website aufbereitet, siehe https://www.geschichte-der-anarchie.de/ Als Trägerschaft treten das Amsterdamer Institut sowie der Libertad-Verlag in Potsdam auf, der die libertäre Zeitschrift espero herausgibt.

Tatsächlich, Nettlaus «Geschichte des Anarchismus» ist in historischer Hinsicht unverzichtbar. Im Übrigen bemerkenswert geschrieben. Obwohl viel bibliografisch aufgelistet wird, liest sich das erstaunlich flüssig, und zugleich sehr subjektiv, mit unverblümten Wertungen zur Sekundärliteratur und Eingeständnissen, wenn Nettlau etwas (noch) nicht gelesen hat.

Zwischen den ersten Bänden der «Geschichte» veröffentlichte Nettlau, 1927, das Buch «Eugenik der Anarchie: Texte zu Geschichte und Theorie des Anarchismus». Der zeitgenössische Begriff der Eugenik unheiligen Angedenkens irritiert ein wenig. Nettlau skizziert damit seine Einschätzung des gegenwärtigen Anarchismus, was zugleich eine Absichtserklärung fürs Buch bedeutet: «Der gesunde Keim ist da, aber auch der gesündeste Keim bedarf günstiger Entwicklungsverhältnisse und diese, die Eugenetik der Anarchie also, zu schaffen, kann durch diese Skizze gewiss nicht erreicht werden, sollte aber durch sie wenigstens angeregt und zur Diskussion gestellt werden.» Man kann nur hoffen, dass er das nicht wirklich so biologistisch verstanden hat wie es sich von heute aus anhört. Die vorliegende Ausgabe ist übrigens die Neuausgabe durch einen weiteren kleinen Verlag, Büchse der Pandora, und zwar von 1987.

 

England und Spanien

Im ersten Band von Nettlaus «Geschichte der Anarchie» mit dem Titel «Der Vorfrühling der Anarchie» findet sich ein ganzes Kapitel, das IX., über William Godwin. Für Nettlau gehörte der noch selbstverständlich zum linken Bildungsgut, «Godwins Leben ist bekannt genug», schreibt er einleitend und nennt dann einige Aufsätze um 1900, die sich unter verschiedenen Aspekten mit dem englischen politischen Denker beschäftigen. Mittlerweile ist Godwin (1756-1836), zumindest im deutschsprachigen Raum, vergessen. Oder in den Schatten gestellt, für einmal ein Mann durch Frauen: Durch seine Ehefrau Mary Wollstonecraft, Verfasserin der protofeministischen Schrift «A Vindication of the Rights of Woman», und durch seine Tochter Mary Shelley, Schöpferin des «Frankenstein». Für Nettlau aber gilt Godwin als Verfasser des «ersten grundlegenden anarchistischen Werks». Und er belegt das mit verschiedenen Zitaten von Godwin, wonach «alle Regierung notwendig unserer Vervollkommnung entgegenwirke», die – gewaltlosen – Revolutionen als «allgemeine Erleuchtung» den gesellschaftlichen Fortschritt vorantrieben und man den Staatsapparat zu kleinen autonomen Entscheidungsinstitutionen umbauen müsse, die schliesslich auch entfielen, bis jede Angelegenheit von den Betroffenen von Fall zu Fall geregelt werde.

Was Nettlau noch nicht bearbeiten konnte und wo der Anarchismus zur Praxis wurde, war Spanien ab 1936, in der dortigen revolutionären Republik, die dann von den faschistischen Kräften im Bürgerkrieg 1939 zerschlagen wurde. Dazu steht nun im bücherraum ein kleiner Band, quadratisch im Format: «The Spanish Revolution 1936». Das Cover eignet sich das Signet der anarchistischen Bewegung an und nennt deren Protagonisten: die CNT, Konföderation anarchosyndikalistischer Gewerkschaften, und die FAI, Iberische Anarchistische Föderation, der parteimässige oder militante revolutionäre Arm der Gewerkschaften, in dessen Namen gelegentlich auch Attentate verübt wurden. Der Band enthält schöne, heroische Fotografien aus dem CNT-Archiv, das sich wiederum in Amsterdam befindet. Etwa eine Aufnahme von lesenden Soldaten in einer Bibliothek hinter der Front. Versehen mit zweisprachigem Text, englisch und holländisch. Ja, holländisch. Tatsächlich ist das Buch in Holland erschienen, 1986. Es fühlt sich etwas steif, ungelenk an, doch dann findet sich bei genauerer Untersuchung vorne und hinten im Kartonumschlag je eine Schallplatte, Singles, muss ich einem jüngeren Nachhilfeschüler erklären: eine Platte mit einem Lied pro Seite, je eine A- und B-Seite. Auf den Computer übertragen, tönt Politpunk von 1986 aus Holland aus den Lautsprechern. Und zwar von der Gruppe The Ex, 1979 gegründet und offenbar immer noch politisch-musikalisch unterwegs. Die vier Lieder sind spanisch und englisch gesungen, holländisch hätte wohl nicht den selben anarchistisch internationalen Groove.

Obwohl, hatte ich gedacht, es eine Tradition holländischen Anarchismus gibt, nicht gerade als politische Bewegung, aber durch verschiedene TheoretikerInnen. Henriette Roland Holst war mir begegnet, in späteren Jahren als religiöse Sozialistin aktiv, auch Hermann Gorter war mir vage in Erinnerung. Aber beim Nachforschen hat sich herausgestellt, dass beide eher linkskommunistischen Strömungen zuzurechnen waren, eine falsche politische Zuordnung meinerseits, die dem unverbrüchlich anarchischen Tomi nicht gepasst hätte.

Ebenfalls zu Spanien findet sich ein Band von Augustin Souchy: «Anarchosyndikalisten über Bürgerkrieg und Revolution in Spanien». Erstmals ist der Band erschienen unter dem Titel «Nacht über Spanien» im Verlag Die freie Gesellschaft, Darmstadt-Land, wieder mal ohne Erscheinungsjahr. Ja, Zeit ist für AnarchistInnen ein Disziplinierungsinstrument. Hier liegt der Band in einer Neuauflage des März-Verlags von 1969 vor. Souchy spricht über die spanischen Freiheitskriege der Vergangenheit, und er stellt eine Tradition her, die auf den Befreiungskampf gegen die napoleonische Besatzung zurückgehe, während dem Guerillataktiken erprobt worden seien. Das wiederum wird, um einen anderen Faden aufzunehmen, in einem Roman des schottischen Schriftstellers Stuart Hood ebenfalls thematisiert, «Das Buch Judith», 2020 bei der edition 8 in Zürich erschienen. Hoods Roman verbindet in einer Art Rahmenhandlung gleichenfalls drei Zeiten und Ebenen von spanischen Freiheitskriegen, eben die Befreiungskriege gegen Napoleon – allerdings von liberal-nationalistischen Kräften instrumentalisiert –, den Bürgerkrieg 1936-39 und den Kampf gegen Franco 1975, als der Diktator und sein Regime in den letzten Zügen liegen. Ich kann das Buch nur empfehlen, und dies nicht nur, weil ich es übersetzt habe.

Schliesslich, die Schweiz

So setzen sich die Entdeckungen und Lektüren fort, aber ein Fund sei noch erwähnt. Einem Bändchen von Tristan Tzara, «7 DADA Manifeste», herausgegeben in der edition Nautilus, 1978 in der zweiten Auflage, findet sich ein vervielfältigtes Schreiben beigelegt. «Aufruf zur TELEBUEHNE ʼAntigoneʼ vom 2. Juli 1980» heisst es zu oberst; und die Lesenden werden aufgefordert, per Brief die Frage zu beantworten «Ist Widerstand gegen die Staatsgewalt berechtigt – und wann?», und wer, wird nachgeschoben, Interesse an einer Teilnahme an der Sendung habe, solle dies auf dem Brief vermerken. Datiert ist das hektografierte Blatt vom 2.6.1980 und unterschrieben vom Produzenten der Telebühne, Max P. Ammann. Jene Telebühne aber ist längst in die Annalen der Schweizer Polit- und Mediengeschichte eingegangen, weil sie die erste Live-Sendung war, die, unter der Leitung des späteren Fernsehdirektors Andreas Blum, abgebrochen wurde, da Mitglieder der Zürcher «Bewegung» die freundliche Einladung gerne angenommen hatten und die ganze Sendung durch allerlei Aktionen durcheinander brachten. Das Blatt scheint echt zu sein, aber vielleicht ist es auch eine nachträgliche Vor-Rekonstruktion, denn wer weiss das schon, wenn Dada und Politik aufeinander treffen, so wie es auch bei Peter Weiss geschehen ist – aber das ist dann wieder eine andere Geschichte.

Stefan Howald

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Wo das Böse steckt

Sechs Bücher hatte der Schriftsteller Jürgmeier mitgenommen, um sie im bücherraum f vorzustellen – es reichte dann angesichts des lebhaften Publikumsgesprächs nur für vier. Hannah Arendts “Eichmann in Jerusalem” hat besondere Bedeutung gewonnen; einerseits wegen der Debatte um die Banalität des Bösen, aber vor allem wegen der dringlichen Frage, wie weit Kritik an Israel gehen darf (oder muss). Auch die übrigen Bücher schnitten durch aktuelle Debatten hindurch, etwa um race und gender, oder um die Funktion der Schule. Der workshop lässt sich hier nachhören.

Folgende Bücher wurden besprochen

– Manès Sperber: Wie eine Träne im Ozean. Romantrilogie. Französische Originalausgabe 1949-1952, deutsche Erstausgabe 1961. Antiquarisch als dtv-Taschenbuch erhältlich.

– A.S. Neill: theorie und praxis der antiautoritären Erziehung. das beispiel summerhill.  Englische Originalausgabe 1960, deutsche Erstausgabe 1965. Jetzt lieferbar als Rowohlt Taschenbuch, 51. Auflage der Ausgabe von 1994.

– Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Englische Originalausgabe 1963, deutsche Erstausgabe 1964. Jetzt lieferbar als Piper Taschenbuch, 2022.

– Mithu Sanjal: Identitty. Hanser Verlag, 2021.

 

Natürlich sind alle diese Bücher auch im bücherraum f zu lesen.

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