Aus den Tiefen des Alltagsverstands

Anpassung als solidarischer Verzicht

Wenn in unserer Gesellschaft von oben Anpassung verlangt wird, ist meistens ein Verzicht gemeint. Seid flexibel, passt Euch den neuen Marktgewohnheiten an, gebt eure bisherigen Jobkenntnisse und den fixen Arbeitsplatz auf. Kaderlöhne und Mieten müssen den globalen Marktbedingungen angepasst werden, also passt euch an höhere Mieten und Pharmapreise an. Die Forderungen der Länder des Südens nach einem Fonds zur Bekämpfung des Klimanotstands sind zwar verständlich, aber sie sollten sich doch der schwächelnden globalen Ökonomie anpassen.

Dagegen gibt es ein gutes soziales Prinzip: keine Anpassung nach unten. Das gilt für gewerkschaftliche, sozial- wie migrationspolitische Arbeit. Am kontroversen Beispiel: Wenn ukrainische Flüchtlinge besser gestellt werden als solche aus afrikanischen Ländern oder aus Afghanistan, dann sollte nicht ein Neidreflex bedient werden, sondern dann müssen die andern Flüchtlinge ebenfalls besser behandelt werden. Es muss also nach oben angepasst werden.

Ausser, es geht ums Überleben aller Menschen, der Menschheit, der Erde. Das erfordert, bei uns, tatsächlich eine Anpassung nach unten. Die Wende muss in den hoch entwickelten Regionen und Staaten notwendig mit einem Verzicht einhergehen, an Reichtum, Konsum, Mobilität.

Das kann man uns doch nicht zumuten, heisst es plötzlich von konservativer Seite. Anpassung gilt jetzt bloss für die andern. Bangladesh muss halt mit mehr Stürmen rechnen, und ein paar Inseln im Pazifik werden womöglich untergehen, und Gletscher und Eisbären sind letztlich auch nicht wirklich überlebenswichtig. Gegen das Restrisiko können wir dann neue Technologien einsetzen. Damit werden wir bei unseren luxuriösen Gewohnheiten bleiben dürfen. Ja, es werden, nur halbwegs scherzhaft, mögliche Gewinne durch mehr Hitzetage aufgezählt: üppigere Vegetation, besserer Wein aus der Ostschweiz.

Die ernsthafte Grundfrage bleibt dagegen: Wie kann unsere Gesellschaft, wie kann unsere Lebensweise dem Klimanotstand angepasst werden?

Tatsächlich, die Veränderung unserer Gewohnheiten ist schwierig zu vermitteln. Denn mittlerweile gilt: nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Die Energiesparappelle sind verhallt, die Flughäfen melden Rekordzahlen, die Autoverkäufe werden durch Subventionen für E-Mobile stimuliert, Kreuzfahrten boomen, der Einkauf in Bioläden von nachhaltiger hergestellten Lebensmitteln geht wieder zurück.

Das liebe Geld

2021 ist das CO2-Gesetz abgelehnt, zwei Jahre später das Klimaschutzgesetz angenommen worden. Der Meinungsumschwung wurde zumeist damit begründet, durchs neue Gesetz würden keine direkten finanziellen Opfer mehr verlangt, sondern man arbeite mit Anreizen. Aber ging es nur ums Geld? Ausgaben wird nach Prioritäten getätigt. Für die grosse Ferienreise oder die zweijährlichen Städteflüge oder die Kreuzfahrtreise oder den neusten Supergrill oder das E-Mobil scheint immer noch genügend Geld vorhanden.

Eine Entscheidung wie die zum CO2-Gesetz ist komplex. Sie bindet eigene Interessen und Werte zusammen. Um das Leben, mehr oder weniger, zu meistern, stützen wir uns auf einen spezifischen Alltagsverstand.i Der ist ein Baukasten von Argumenten und Gefühlen, von Regeln und Mechanismen. Im Deutschen wird das zumeist als gesunder Menschenverstand bezeichnet, was eine Wertung und eine Moralisierung darstellt – alles andere wäre ja ungesund. Im Italienischen oder im Englischen heisst das senso communo oder common sense. Darin steckt die Erkenntnis, dass wir unseren Alltag nicht ohne andere, sondern nur gemeinschaftlich meistern. Im Deutschen wird mittlerweile der Begriff Alltagsverstand verwendet, was besser ist als der gesunde Menschenverstand, obwohl darin das Gemeinschaftliche weiterhin fehlt.

Der Alltagsverstand setzt an alltäglichen Erfahrungen an, überlagert von Vorstellungen und Werten und Erkenntnissen aus verschiedenen Zeiten und Schichten der Sozialisierung. Er ist widersprüchlich, unterschiedlichen Einflüssen unterworfen, von Geschlechts-, Klassen-, Rassen- und kulturellen Elementen durchzogen. Intersektional ebenso wie intrasektional. Mit dem Alltagsverstand treffen wir bewusste Entscheidungen und handeln aufgrund unbewusster Motive.

Eine alte Sentenz des Alltagsverstands lautet: Geld regiert die Welt. Bestritten wird das von jenen, die Geld haben oder regieren. Sie können eine weitere Sentenz ins Feld führen: Geld allein macht nicht glücklich. Entsprechend verkündet in der «Sonntagszeitung» der Glücksforscher Mathias Binswanger aus aktuellem Anlass, «mehr Lohntransparenz macht nicht glücklicher».ii Indem die Löhne direkt verglichen werden könnten, fördere Transparenz nur die Unzufriedenheit. Binswanger illustriert das mit einem Beispiel aus einer Versuchsanordnung. Die ProbandInnen hätten die Wahl gehabt: Entweder 120 000 Franken im Jahr zu verdienen, während die KollegInnen 130 000 verdienten, oder 100 000 Franken zu verdienen, während die KollegInnen nur 90 000 erhielten. Eine Mehrheit habe sich für letztere Variante entschieden, was zeige, dass nicht die absolute Lohnhöhe, sondern der Vergleich mit andern wichtiger sei. Eben: Geld allein macht nicht glücklich. Man kann den Versuch und das Resultat aber auch anders lesen: Geld ist und bleibt ein zentraler Massstab für soziale Verhältnisse.

Tatsächlich: Die Macht des Geldes geht über seine praktische Benutzung als Zahlungsmittel hinaus. Karl Marx hat von einem «Fetischcharakter des Geldes» gesprochen. Waren werden durch menschliche Arbeit geschaffen. Geld seinerseits ist ursprünglich ein Vergleichsmittel, um Waren in eine Beziehung zu setzen und austauschbar zu machen. Doch es verselbständigt sich, und ihm werden plötzlich ein eigener Wert und eine Macht zugesprochen, die als Natureigenschaft gelten. Weiter entwickelt, erscheinen Kredit und Kapital, etwa von Banken eingesetzt, als Fähigkeit und Macht, dass Geld mehr Geld aus sich heraus zu gebären vermag. Was Resultat menschlicher Handlungen ist, wird als übermächtiges Naturgesetz erfahren, das die Menschen beherrscht. Das nennt Marx in Anlehnung an die kritische Anthropologie der Religionen einen Fetisch. Dabei meint der Begriff vom Fetischcharakter mehr als eine illusionäre Konstruktion, eine reine «Selbsttäuschung». Der Fetischcharakter ist nicht nur eingebildet, eingeredet, sondern real: So funktioniert die Wirtschaft. Wir bewegen uns alltäglich darin, und werden alltäglich davon geprägt. Dass wir Kapitalzinsen zahlen, ist real und insofern zutreffend, «wahr»; aber nicht, weil Kapital «aus sich heraus» Zins produziert, sondern weil die wirtschaftliche und soziale Verfassung unserer Gesellschaft dem Kapitalbesitzer einen Zins zuerkennt. Wenn Marx von einer «Religion des Alltagslebens» spricht, in der sich die Menschen einrichten, so anerkennt er zugleich die Macht dieser Religion. Selbst wenn man um diese Mechanismen weiss, überfallen sie einen zuweilen hinterrücks: Erwarten wir nicht «naturgegeben» einen Zins für unsere Spareinlagen, und fühlen wir uns durch Nullzinsen nicht um einen selbstverständlichen Anspruch betrogen?

Der Geld- beziehungsweise der Kapitalfetisch bezieht sich also auf zwei Ebenen. Er prägt tatsächlich das Funktionieren der Gesellschaft und damit jedes Einzelnen: Unsere Pensionskassen müssen Kapitalgewinne erzielen. Er prägt zugleich unsere Denk- und Handlungsformen: Ohne Geld scheint nichts zu funktionieren. Dabei ist diese Macht seit der Entwicklung des finanzgetriebenen Kapitalismus immer übermächtiger geworden.

Allerdings: Geld regiert nicht allein. Es ist verwickelter.

Flugscham

Vor ein paar Jahren, 2017, erklärten in Schweden einige prominente Persönlichkeiten, sie könnten es mit ihrem Gewissen nicht mehr verantworten, zu fliegen. So war die «flygskam» öffentlich geworden. 2019 kam die «Flugscham» im deutschsprachigen Raum an, seit 2020 steht sie im Duden. Sie geht von der individuellen Person aus: Ich schäme mich dafür, zu fliegen. Dieser Ansatz lässt sich kritisieren, weil er zwar ein richtiges Problem bezeichnet, aber eine gesellschaftliche Diskussion und Aufgabe ins Individuelle, Moralische verlagert.

Mittlerweile ist der Begriff allerdings polemisch umgebaut worden. Die Flugscham werde nämlich, so heisst es von konservativer Seite, als Vorwurf an die andern eingesetzt: Du solltest Dich schämen, wenn Du fliegst. Der Vorwurf, die Flugscham setze andere ungerechtfertigt einem Vorwurf aus, gehört jetzt ins Repertoire der political correctness, diesen Kampfbegriff von rechts. Er bedient den mehrfach besetzten libertären Affekt: Wir lassen uns nichts vorschreiben.

Tatsächlich, viele lassen sich, was ihre Feriengestaltung betrifft, nichts vorschreiben. Die European Investment Bank hat Anfang 2022, also kurz nach der Pandemie, Meinungen und Konsumverhalten in den meisten europäischen Ländern untersucht. Ein spezifisches Resultat daraus: 69 Prozent der jungen Europäer:innen unter 30 Jahren sagten, sie berücksichtigten bei der Wahl ihrer Ferienorte ökologische Kriterien; zugleich wollten 52 Prozent der Befragten 2022 mit dem Flugzeug in die Ferien fliegen.iii Mitte 2023 hat eine Meinungsumfrage für die Schweiz die Einstellung zur Flugscham ermittelt.iv Danach meinten 58 Prozent, man müsse wegen Flugreisen keinerlei oder kaum ein schlechtes Gewissen haben. Gleichzeitig ist eine Mehrheit in der Schweiz für verstärkte Massnahmen gegen den Klimanotstand, wie nicht zuletzt die Annahme des Klimaschutzgesetzes gezeigt hat.

Eine Erklärung für solche Widersprüche wird mit der «kognitiven Dissonanz» angeboten: Wir wissen, dass wir etwas nicht tun sollten, tun es aber trotzdem. Um den Widerspruch auszuhalten, werden verschiedene Rechtfertigungen konstruiert. Etwa: Die anderen machen es auch, und noch viel mehr als ich. Oder: Ich fliege zwar, aber ich recycle alles, was mir unter die Hände fällt. Und dazu: Wenn ich nicht fliege, ändert das am weltweiten CO2-Ausstoss kein bisschen. Diese Rechtfertigungen sind immer auch gesellschaftlich geprägt. Die «kognitive Distanz» wird politisch hergestellt und bedient. So werden parallele Argumentationsmuster verwendet. Im Grossen: Der CO2Ausstoss der Schweiz spielt verglichen mit dem von China keine Rolle. Im Kleinen: Mein persönlicher Verzicht spielt verglichen mit dem der Massen, die weiterhin fliegen, keine Rolle.

Dabei zehrt der Alltagsverstand von historischen Erfahrungen verschiedener Generationen. Regelmässige Ferien und mehr Freizeit durch verkürzte Arbeitszeiten waren (und sind) ein Kampfziel der Gewerkschaften. Ferien für die Massen waren und sind eine Errungenschaft und ein Schritt aus der Arbeitsgesellschaft heraus. Gesteigerte Mobilität durchs Autofahren und Fliegen war ein Fortschritt aus der lokalen Beschränktheit heraus. Der wirtschaftliche Aufschwung in den Industriestaaten ab Ende 1950er-, Anfang 1960er-Jahre, die gesteigerte Kaufkraft für viele, hat die Epoche des Massenkonsums eingeleitet. Noch in den 1930er-Jahren verfügte eine relativ homogene Arbeiter:innenbewegung über ein ganzes Geflecht von Organisationen und Institutionen zur Freizeit- und Feriengestaltung, von den Naturfreunden zu Ferienheimen und kollektiven Ferienreisen. Mit dem Zerbröckeln spezifischer Klassenkulturen entwickelte sich der individualisierte Massentourismus, dann der massenhafte Individualtourismus. Ausland-Ferienreisen sind seit zwei Generationen selbstverständlich geworden; doch jetzt, durch Kerosinabgabe und Flugscham, sind sie wieder bedroht. Dagegen wird affektiv reagiert

Wer ist denn da gemeint?

Allerdings gilt das weiterhin klassenmässig spezifisch. So wie die Kluft zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat, hat sich auch die Klimabelastung entlang sozialer Schichten verschärft. So belasten die reichsten 5 Prozent der Weltbevölkerung die Umwelt heute um rund einen Drittel mehr als noch vor dreissig Jahren.v Bis und mit den reichsten 20 Prozent hat die Belastung – in unterschiedlichem Mass – seit 1990 zugenommen. Erst die folgenden sozialen Schichten haben ihre Umweltemissionen reduziert, am stärksten die untersten 20 Prozent, die schon immer verhältnismässig wenig zur Umweltbelastung beitrugen.

Dazwischen liegt ein Wesen, das in sozialen, politischen, ideologischen Zusammenhängen häufig beschworen wird: der Mittelstand. Früher wurde der Mittelstand von spezifischen Tätigkeiten her definiert; Intellektuelle – Pfarrer, Lehrer, Beamte – gehörten dazu. Mittlerweile ist er weitgehend eine arithmetische Grösse von der Mitte aus, minus 20 Prozent oben und 20 Prozent unten. Ja, hat der englische Labour-Politiker und Ex-Gewerkschafter John Prescott schon Ende der 1990er-Jahre gegen ein angeblich veraltetes Klassendenken gesagt: Mittlerweile gehören wir doch alle zum Mittelstand. Genauer: Wir wollen alle dazu gehören. Entsprechend geben sich alle Politiker:innen als Statthalter des Mittelstands und als dessen Verteidiger aus. Je nachdem zählt dazu mehr der Handwerker und Bauer oder der mittelgrosse Unternehmer. Was dem armen Mittelstand nicht alles zugemutet wird, woran der nicht alles leidet, von der Steuerbelastung bis zum Solarpanel auf dem wohl verdienten Einfamilienhaus; die Zürcher Regierungsrätin Nathalie Rickli hat aktuell behauptet, die aus dem Ruder laufenden Kosten des Gesundheitswesens träfen vor allem den Mittelstand und brächten «einen Grossteil des Mittelstands in Schwierigkeiten».vi

Dahinter steckt der historisch abgeleitete Anspruch, dem Mittelstand stehe alles, zumindest vieles zu: Besitz, Bildung, Eigenständigkeit. Das hat eine lange Tradition. Seit den 1920er-Jahren fürchten die Mittelschichten öffentlich oder insgeheim den drohenden Abstieg. Verlustangst wird zum Anspruch, ja zum Recht umgebaut.

Aber den Mittelstand gibt es nicht. Er ist eine Konstruktion, im Wortsinn. Darunter fallen unterschiedliche Schichten und Segmente in unterschiedlichen sozialen Lagen und mit unterschiedlichen Verhaltensweisen. Das zeigt gerade auch die Studie zu den Umweltemissionen. So hat der obere Mittelstand, diejenigen, die in der Einkommenspyramide zu den 10 Prozent unter den reichsten 20 Prozent gehören, seinen CO2-Ausstoss um durchschnittlich 5 Prozent reduziert, diejenigen 10 Prozent, die über den ärmsten 20 Prozent liegen, jedoch um 19 Prozent.

Konsum und Erlebnis

Die neue Gesellschaftsformation nach dem Zweiten Weltkrieg ist mit verschiedenen Bezeichnungen gefasst worden, von der Freizeit-, über die Konsum- zur Erlebnisgesellschaft. Während «Konsumgesellschaft» in einer kritischen Tradition eher griesgrämig und hilflos aufs angeblich durchgängig fremdbestimmte Verhalten der Menschen blickt, geht das Konzept der – kapitalistisch verfassten – «Erlebnisgesellschaft» darüber hinaus, weil es auf die Aktivität der Menschen hinweist. Denn jede Konsumhandlung hat auch eine tätige Seite, und in jedem Kauf steckt, wie verdeckt, verborgen und verbogen auch immer, ein Element der Selbstaktivität. Wenn das Mountainbike auf den SUV geladen wird und im schnellen Trip durch den Wald hinunter ahnungslose Fussgänger:innen erschreckt werden, so mag das individualistischer Hedonismus sein, die Freizeitindustrie mit ihren neusten Gadgets bedienen und Modetrends eines «gesunden Körpers» folgen, aber in der körperlich-emotionalen Tätigkeit steckt doch auch ein Moment der Selbstbestimmung. Wenn Autos von Männern mit balkanischem Migrationshintergrund getunt werden, so stecken in dieser Suche nach Statussymbolen für den gesellschaftlichen Aufstieg ökologisch fragwürdige kulturelle Prägungen, aber auch spezifische handwerklich-technische Fähigkeiten. Entscheidend bleibt, die Widersprüche nicht kulturkritisch oder politisch dogmatisch einseitig aufzulösen.

Kein Mensch ist allein, nirgends

Von Klassen wird heute kaum mehr geredet, sondern von Blasen, der Herausbildung neuer homogener Milieus vor allem in den und durch die neuen sozialen Medien. Wie bei den meisten kulturpessimistischen Thesen steckt ein wenig Wahrheit darin. Zugleich ist es eine Vernachlässigung ökonomischer Interessen und letztlich auch eine Entpolitisierung. Denn jede noch so «wahnhafte» Bewunderung von rechtspopulistischen Demagogen hängt mit Erfahrungen, sozialen Situationen zusammen, auch wenn sie «falsch» gedeutet werden. Soziale Medien verschärfen aber nicht nur die Diskurse, sondern sie schaffen neue Karrieren: So verfestigen sie die Vorstellung einer erbarmungslosen Meritokratie, was vielleicht noch prägender ist als das Schrille und die Polarisierung der Positionen.

Ein grundlegender Widerspruch zieht sich wie ein roter Faden durch den Alltagsverstand – der zwischen gemeinschaftlicher, solidarischer versus individualistischer Orientierung. «No man is an island entire of itself / every man is a piece of the continent, a part of the main», hat der englische Pfarrer und Lyriker John Donne 1624 in einer noch traditionell verfassten Gesellschaft prägnant formuliert. Dagegen steht dann die Sentenz «Selbst ist der Mann». Robinson Crusoe ist das Bild jenes Einzelnen, der sich auf der einsamen Insel gegen alle Widrigkeiten zu behaupten vermag. Er ist, 1719 von Daniel Defoe geschaffen, ein Mythos des Individualismus, der sich die Natur unterwirft und mit der Figur Freitag ein kolonialistisches Subjekt an die Seite oder unter sich gestellt erhält. Robinson ist der erfindungsreiche, sich durch seine Arbeit selbst erziehende Einzelne, ein Vorbild der selbstbestimmten Aufklärung ebenso wie ein merkwürdiger Vorschein des puritanischen (Klein)Unternehmers.

Im Zeichen von vier Jahrzehnten neoliberaler Vorherrschaft hat sich diese Polarisierung verschärft, im Weltmassstab wie innerhalb einzelner Gesellschaften, auch in den Ländern des Südens. Die Macht von Medien und Öffentlichkeit auf den Alltagsverstand hat zugenommen. Dennoch verschlingen sich die Sehnsucht nach dem Singulären und das Bedürfnis nach der Gemeinschaft weiterhin. Der geforderte und geförderte Individualismus wünscht sich gelegentlich das Aufgehen in der Masse. Umgekehrt unterwirft man sich, wenn man nach dem Singulären strebt, der Konvention.

Geld und Zeit und Engagement und emotionale Beteiligung müssen priorisiert werden, und geschafft wird das mittels einer Kompartementalisierung, einer Aufspaltung, einem rigiden Kästchendenken. Das eine tun, und das andere nicht lassen. Vegetarismus, gar Veganismus, und trotzdem fliegen. Das ganz konsequente Leben ist nicht möglich, nicht lebenswert. Auf die Spitze getrieben – und politisch ausgeschlachtet – erscheint das bei jenen Klimaaktivist:innen, die auf ferne Kontinente in die Ferien fliegen.

In diese individuellen Entscheidungssituationen und Wertediskussionen klinken sich ökonomische Interessen ein. Das eine wird gefördert, das andere bekämpft. Mit Nicht-Fliegen lässt sich nicht wirklich Geld verdienen – die Alternativen wie Bahn oder Velo gehören zu kleineren Kapitalfraktionen –, aber biologische Nahrungsmittel haben selbst die Nahrungsmittelmulti und die Grossverteiler in ihr Sortiment aufgenommen.

Auch die Sprache mischt sich ein. Es gibt ein Gezerre um Worte: nachhaltig, biologisch, fair. Sprachkritik vermag, zentrale Konzepte zu verdeutlichen und aufzudröseln. «Fliegen» liesse sich wie folgt definieren: «Fliegen verbindet schnell über weite Distanzen». «Schnell» und «weit» sind mittelfristig aus ökologischen Gründen nicht mehr haltbar. Doch sollten Verbote nur die letzte Massnahme sein, sondern es muss das Positive betont werden. Hier also: das Verbinden. Das Gemeinschaftliche. Dafür müssen dann andere Mittel als das Fliegen angeboten werden.

Solidarität

Die Vereinzelung ist eine Geissel unserer Zeit. Einerseits führt sie zu sozialer Verkümmerung, andererseits mündet sie in den schrankenlosen Narzissmus.

Welche Gemeinschaftlichkeit hilft dagegen? Nehmen wir ein Beispiel aus der Popularkultur, die kürzlich in Zürich durchgeführte Street Parade. Vor dreissig Jahren gestartet, danach in mehreren Städten kopiert, blieb Zürich mit fast einer Million Besucher:innen die weitaus erfolgreichste europäische Street Parade und ist mittlerweile die letzte – man könnte von einem Sonderfall Schweiz sprechen.

Ökologisch gesehen hat sich die Street Parade «angepasst» der Müll wird recyclet, manche Infrastruktur mit nachhaltiger Energie betrieben. Die Aufräumaktion gleich im Anschluss an den Umzug ist – wieder der Sonderfall Schweiz – eine tolle organisatorische Leistung. Aber wenn man all die Emissionen zusammenrechnet – Anreise, Betrieb und Ausstattung der Love Mobile, Produktion der Getränke, Herstellung der Kostüme, Transport der Getränke, Strom für die Sound Anlagen, Verkauf der Getränke – kann von Nachhaltigkeit keine Rede sein. Keine Massenveranstaltung kann gegenwärtig nachhaltig sein.

Was aber bietet die Street Parade als Erlebnis an? Als kulturelles Ereignis ist sie dieses Jahr vom Schweizer Bundespräsidenten und Kulturminister Alain Berset explizit geadelt worden. Tatsächlich ist sie nicht nur ein kulturelles, sondern vor allem ein multikulturelles Ereignis. Verschiedene Szenen, Nationalitäten, Gender-Identitäten kommen zusammen. Ist das politisch? Anfänglich schon, zumindest vom Anspruch her. Davon ist nicht mehr viel geblieben. Aber Alain Berset hat wohl recht, wenn er es als Leistung feiert, dass es bei der Parade keine Gräben gibt (die haben sich zwischen Teilnehmende und Nicht-Teilnehmende verschoben), und ein Kommentator hat wohl recht, wenn er die Toleranz als kleinsten gemeinsamen Nenner anführt.

Was gruppiert sich um diesen Kern herum? Zuerst einmal die Ausnahmesituation, die Abgrenzung von Alltag, wie es auch der Fasnacht innewohnt. Dann, eben, das Gemeinschaftliche. Dessen Anlass und Inhalt ist nicht beliebig: eine Demo ist kein Fussballspiel ist keine Street Parade. Bei der Street Parade ist es der Tanz, der Rhythmus als Ekstase, die Erotik. Die Gemeinschaftlichkeit ist in den Körper konzentriert.

«Gemeinschaft» ist oft konservativ besetzt, konzeptionell etwa in der Gegenübersetzung von «Gesellschaft» und «Gemeinschaft». Besonders rechtspopulistische Bewegungen haben es auf die Gemeinschaft abgesehen. Ihre Gemeinschaft schliesst alles feindlich aus, was nicht dazu gehört. Doch das Gemeinschaftliche darf nicht aufgegeben werden, sondern aus dem Dumpfen muss die Offenheit für andere gelöst werden. Mit dem handfesten Zauberwort: Solidarität.

Sie mag historisch belastet klingen, weil sie einst ein zentrales Schlagwort sozialer Bewegungen war. Im «Solidaritätslied» von Bertolt Brecht und Hannes Eisler hat sie in den 1930er-Jahren einen klassischen Ausdruck bekommen. Solidaritätskomitees mit der Dritten Welt haben das in den 1970er-Jahren zu aktualisieren versucht, und die «Solidarität mit den Gefangenen der RAF» hat in eine mörderische Sackgasse geführt. Solidarität ist aber auch ein Prinzip der katholischen Soziallehre, in deren Tradition die Caritas steht. Durch das Zusammenwirken verschiedener Richtungen und Traditionen ist das Solidaritätsprinzip in unsere Sozialversicherungen bezüglich Krankheit, Unfall, Altersvorsorge und Arbeitslosigkeit eingebaut werden.

Sogar im bürgerlichen Wirtschaftsrecht taucht das Solidaritätsprinzip terminologisch in der Solidarhaftung auf. Allerdings ist es da einseitig aufgelöst. Gemeinsam haften bloss die Schuldner, während die Gläubiger zwar ein gelindes Risiko tragen, aber sich der gemeinsamen Verantwortung entziehen können. Auch bürgerliche Politiker:innen sind sich der Attraktivität des Solidaritätsbegriffs bewusst. Der liberale Ex-Ständerat und Gesundheitspolitiker Felix Gutzwiller bezieht sich in einem aktuellen Diskussionsbeitrag auf das Solidaritätsprinzip der Krankenversicherung und fordert, es zu einem neuen «Solidaritätsnarrativ» auszuweiten. Gemeint ist damit die Forcierung des digitalen Gesundheitswesens, untermauert durch eine neue «Daten- und Monitoringsolidarität», mit all den Chancen, die sich dadurch der Wirtschaft bieten.vii Eine eher durchsichtige Verschiebung nimmt Regierungsrätin Nathalie Rickli vor, wenn sie meint: «Ein System, das einen Grossteil des Mittelstandes in Schwierigkeiten bringt, kann man nicht mehr solidarisch nennen.»viii

Gegenüber solchen Umwertungsversuchen steht ein Solidaritätsbegriff, der sich am menschlichen Zusammenhalt, an Rücksichtnahme auf die Schwachen und generell am Humanen orientiert. Das Bestreben um eine solche Solidarität geht in zwei Richtungen: Kritisch, indem dadurch Konkurrenzdenken, Leistungs- und Profitprinzip zurückgedrängt werden sollen – ironischerweise akzeptiert mein Software-Korrekturprogramm letzteres Wort nicht als richtig. Positiv in der gleichberechtigten Achtung voreinander. Solidarität ist nicht einfach zu haben, aber auf allen Ebenen und in allen Bereichen nötig und möglich, lokal und global, wirtschafts-, sozial- und kulturpolitisch.

Dazu sind im Alltagsverstand jene Elemente zu suchen und zu stärken, die das Verbindende betonen. Die Solidarische Landwirtschaft, als Beispiel, vertritt die Solidarität explizit im Namen. Grundsätzlich ist sie jeder Genossenschaft eingeschrieben; deren Bedeutung muss entgegen dem Zeitgeist wieder verstärkt werden. Die Drittweltsolidarität sollte durch alle Verwerfungen neuer globaler Machtverhältnisse hindurch neu konstituiert werden; Migrations- und Sozialpolitik sollten sich selbstbewusst auf Solidarität beziehen.

Selbst die kleine Anstrengung zählt, auch wenn der Klimanotstand drängt. Die notwendige Anpassung in diesem Sinn heisst dann: mehr Sorge für Menschen und Natur im solidarischen Verzicht.

Anmerkungen

i Peter Jehle: Alltagsverstand. In: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 1, Berlin 1994, Spalten 162-167.

ii Michael Marti: «Mehr Lohntransparenz macht nicht glücklicher». Interview mit dem Ökonomen Mathias Binswanger. In: Sonntagszeitung, Zürich 13.8.2023, S. 13f.

iii EIB Climate Survey 2021-2022, part 2 of 3. European Investment Bank, Luxemburg 2022. https://www.eib.org/en/surveys/climate-survey/4th-climate-survey/hybrid-electric-petrol-cars-flying-holidays-climate.htm22 March 2022.

iv Dominik Balmer / Olaf König: Flugscham im Land der Vielflieger? Höchstens ein bisschen. In: Sonntagszeitung, Zürich 2.7.2023, S. 18.

v Lucas Chancel / Thomas Piketty / Emmanuel Saez / Gabriel Zucman et al.: World Inequality Report 2022, World Inequality Lab wir2022.wid.world. Zitiert nach Mathieu Rudaz / Dominik Balmer: Reiche belasten das Klima am stärksten. In: Tages-Anzeiger, Zürich 24.8.23, S. 4.

vi Rico Bandle: «Wir sollten eine Abschaffung des Obligatoriums in Betracht ziehen». Interview mit Regierungsrätin Natalie Rickli zum Gesundheitssystem. In: Sonntagszeitung, Zürich 27.8.2023, S. 5.

vii Felix Gutwiller: Neue Chancen für ein digitalisiertes Gesundheitswesen. In: Tages-Anzeiger, Zürich 24.8.2023, S. 2.

viii Siehe Anmerkung vi.


Dieser Beitrag erschien im Caritas Sozialalmanach 2024: Sozialökologische Wende und Armut in der Schweiz, hg Fabian Saner, Caritas-Verlag, Luzern 2024, S. 267-279.

Titelfoto: DRS News
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Das utopische Potential bei Christa Wolf

Im Rahmen des Christa-Wolf-Monats im bücherraum f trat die Berliner Philosophin Karin Aleksander von der Christa Wolf Gesellschaft auf. Ihr Vortrag spürte das utopische Potential bei Christa Wolf in den Themenbereichen Feminismus, Frieden und Sozialismusvorstellungen auf. Anhand zahlreicher Textstellen belegte sie die glühende Qualität und weiter gehende Aktualität von Wolfs Werk.

Der Vortrag lässt sich hier nachhören:

Es lohnt sich auch ein Besuch auf der Website der Christa Wolf Gesellschaft: https://christa-wolf-gesellschaft.de/gesellschaft/

 

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Das ist doch heute, und das bin doch ich

Am 16. Mai trafen sich im bücherraum f die drei Schriftstellerinnen Friederike Kretzen, Melinda Nadj Abonji und Jasmine Keller zu einem Gespräch über Christa Wolf und darüber, was diese für ihr eigenes Schreiben bedeutet habe. Da sassen auf dem Podium drei Generationen. Alle drei waren ursprünglich durch Christa Wolfs “Kein Ort. Nirgends” (1979) über Heinrich von Kleist und Caroline von Günderrode persönlich berührt worden: Das ist doch heute, und das bin doch ich! Durch Christa Wolfs Werk wurde die Zerrissenheit der Welt und der Menschen in die Gegenwart geholt, körperlich und intellektuell.

Alle Autorinnen lasen je eine Passage aus einem Werk von Christa Wolf und einen eigenen Text, der sich mehr oder minder explizit mit Christa Wolf auseinander setzt. Leuchtend wurde deren “unverwechselbare Stimme” ebenso wie die je eigene der drei Autorinnen hörbar.

Der Podcast ist hier nachzuhören:

 

Jüngste Werke

Friederike Kretzen: Bild vom Bild vom grossen Mond. Roman einer Reise. Dörlemann, Zürich 2022. 288 Seiten.

 

Melinda Nadj Abonji: Schildkrötensoldat. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 154 Seiten.

 

 

Jasmine Keller. https://www.literatur.ch/texte/jasmine-keller/

Ein Bericht über den ganzen Christa-Wolf-Monat findet sich auf dieser Website unter Aktuelles/Blog.

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Ein utopischer Mai zu Christa Wolf

Kein Ort. Nirgends. Darin verflüchtigten sich selbstbestimmte Lebensentwürfe für Frauen. Aber Christa Wolf hat sie in Büchern aufbewahrt: Christa T. Kassandra. Medea. Auch in den eigenen Kindheitsmustern wurden sie aufgespürt, in Sommerstücken oder in Störfällen leibhaftig am eigenen Körper. Auf der Suche nach andern Menschen zeigte sich, dass der Himmel von mehreren Bruchlinien, politischen, geschlechtlichen, sozialen, geteilt ist.

Christa Wolf (1929-2011) war ab den 1960er-Jahren eine der gewichtigsten deutschsprachigen Autorinnen. Ganze Generationen von Leserinnen und Lesern hat sie begeistert und angeregt. Zeit, sie wieder ins öffentliche Bewusstsein zu holen.

Als Karin Aleksander von der Berliner Christa Wolf Gesellschaft an den bücherraum f herantrat und die Übernahme einer Christa-Wolf-Wanderausstellung vorschlug, waren wir entsprechend entflammt. Aber unser Raum schien uns für eine solch leuchtende Sache denn doch ein wenig zu klein. Da traf es sich gut, dass uns Leonie Staubli von der Pestalozzi-Bibliothek Oerlikon kürzlich angefragt hatte, ob wir uns eine punktuelle Zusammenarbeit vorstellen könnten. Die Ausstellung in Form von vierzehn grossformatigen Bannern dünkte uns ein guter Ausgangspunkt. Also erkundeten wir die beiden Räumlichkeiten und fanden bald eine Lösung in Form einer Aufteilung: neun überlebensgrosse, grafisch eindringlich gestaltete Schauelemente in der Pestalozzi-Bibliothek, fünf im bücherraum f. Auch thematisch bot sich eine gewisse Arbeitsteilung an: in ersterer eher die literarischen, in zweiterer eher die politischen Themen, wobei das natürlich dialektisch verschränkt ist und sich nur pragmatisch trennen lässt. Wenn also Passagen aus «Kassandra» zitiert werden, oder wenn die Rezeption in Ost und West verglichen wird, wenn Behinderungen der Arbeit in der DDR zur Sprache kommen oder Lebensläufe in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen, dann wird das Literarische politisch und umgekehrt.

Als Rahmen für die Ausstellung organisierten wir drei Veranstaltungen, deren Durchführung finanziell der Verein Frauenzentrum Zürich unterstützte. So wurde der Mai zum veritablen Christa-Wolf-Monat.

Die technische Konstruktion der Banner erwies sich in einer Mischung aus Diavortrags-Leinwand und verlängerbaren Zeltstangen als überraschend einfach; in der Pestalozzi-Bibliothek empfing das einleitende Banner beim Treppenaufgang in den ersten Stock, fortgesetzt von einem auf dem Treppenabsatz, und die ganze Weite und Vielfalt von Leben und Werke entfaltete sich dann im ersten Stock neben und zwischen den Büchergestellen mit der Belletristik der pbz Oerlikon. Christa Wolfs Tochter Katrin Wolf und ihr Mann, der Grafiker Martin Hoffmann, der die Banner gestaltet hatte, halfen am Montagmorgen, den 6. Mai tatkräftig beim Aufstellen, rückten hier noch etwas zurecht, legten dort noch einen Kartonstreifen unter den Ständerfuss, um ihn richtig vertikal zu stellen; danach gings auf die andere Seite der Oerlikoner Geleise in den bücherraum f, wo fünf Banner den mittleren Raum umrundeten.

Feminismus

Für die Vernissage konnte der bücherraum f der pbz mit einigen Stühlen aushelfen, die wiederum einst in der Buchhandlung Nievergelt gestanden hatten, welche – trotz des fragwürdigen Entscheids der pbz-Zentrale, die ganzen Buchbestellungen der pbz nicht mehr durch die lokalen Buchhandlungen abwickeln zu lassen, sondern dem gefrässigen Moloch der Buchbranche zu vergeben, wofür aber die lokale Filiale und deren Mitarbeiter:innen ja nichts können – den Büchertisch gestaltete (Oerlikon ist ein kulturelles Dorf).

Die Vernissage eröffnete als Gastgeberin Leonie Staubli von der pbz, danach führte Stefan Howald Katrin Wolf ein, die einst als Gleichstellungsbeauftragte in der letzten DDR-Regierung 1990, danach als Trainerin für transkulturelles Lernen und gewaltfreie Konfliktbearbeitung mit NGOs auch in Osteuropa und ab 2007 als stellvertretende Geschäftsführerin der Stiftung filia.die frauenstiftung in Hamburg arbeitete.

Katrin Wolf las Ausschnitte aus verschiedenen Büchern von Christa Wolf, in denen sich deren feministischer Ansatz zeigt – Feminismus sei allerdings ein zu starrer Begriff dafür, es gehe um die Lebensumstände von Frauen, oftmals tragisch scheiternd. Katrin Wolf bestätigte eine gewisse Skepsis ihrer Mutter gegenüber dem westlichen Feminismus und dessen Themensetzungen, weil in der DDR doch einiges selbstverständlich gewesen sei, um das in der BRD damals noch gestritten wurde: die Arbeitstätigkeit der Frauen, dank Kinderkrippen, und damit deren finanzielle Selbstständigkeit; auch der Paragraf 218, der in Deutschland bis heute Abtreibungen im Prinzip verbietet, sei früh abgeschafft worden. Deshalb sei zum Beispiel «Kassandra» in der DDR mehr als Fanal gegen Aufrüstung und Krieg als in der Darstellung von Geschlechterverhältnissen rezipiert worden.

Lange, so erläuterte sie in persönlicher Hinsicht, habe sie sich nicht als Tochter einer berühmten Schriftstellerin definieren lassen wollen, und erst nach dem Tod der Mutter 2011 und jetzt auch des Vaters im letzten Jahr sei sie als Nachlassverwalterin von deren künstlerischem Vermächtnis in eine neue Situation gerückt. Sie deutete an, dass sie ihre Mutter zuweilen allzu selbstquälerisch empfunden habe, setzte ihren Eltern aber ein liebevolles Denkmal, gerade auch ihrem Vater Gerhard Wolf, für den gleiche und gleichberechtigte Arbeit im Haushalt und im Alltag selbstverständlich gewesen sei.

Zum Abschluss der Vernissage präsentierte die Philosophin Karin Aleksander die 2014 gegründete Christa Wolf Gesellschaft und deren Aktivitäten, etwa die Aufarbeitung des Nachlasses und die an der Humboldt Universität in Berlin im Rahmen der Arbeits- und Forschungsstelle Privatbibliothek Christa und Gerhard Wolf durchgeführte peinlich genaue Rekonstruktion des Arbeitszimmers von Christa Wolf mit allen einst gesammelten Büchern. Der Abend in der pbz war ein schöner Erfolg, es gab eine knappe, lautstarke Beschwerde wegen der zu geringen Lautstärke der Vorträge, ansonsten waren nur begeisterte Stimmen zu vernehmen.

 

 

 

 

 

Sprache

Am 16. Mai trafen sich im bücherraum f die drei Schriftstellerinnen Friederike Kretzen, Melinda Nadj Abonji und Jasmine Keller zu einem Gespräch über Christa Wolf und darüber, was diese für ihr eigenes Schreiben bedeutet habe. So sassen auf dem Podium drei Generationen. Friederike Kretzen hat bislang zehn Romane geschrieben, ist als Essayistin und Schreibtutorin tätig; schon zweimal war sie im bücherraum f zu Besuch, ihre Vorträge zu Robert Frank und «das Andere und das Eigene» sind auf dieser Website unter Podcasts nachzuhören. Von Melinda Nadj Abonji liegen drei Romane vor, dazu ist sie multimedial und kulturpolitisch tätig; sie ist ebenfalls schon zwei Mal im bücherraum aufgetreten und hat dabei ein feuriges Plädoyer für die Benennung eines Zürcher Platzes nach Rosa Luxemburg gehalten. Jasmine Keller arbeitet als Bibliothekarin, ist in queeren Zusammenhängen unterwegs, hat bislang Erzählungen veröffentlicht und hat soeben einen Roman beendet. Alle drei, so zeigte sich, hatten als eines der ersten Bücher von Christa Wolf «Kein Ort. Nirgends» gelesen, über Heinrich von Kleist und Caroline von Günderrode und das Ungenügen gegenüber einer rigiden Gesellschaft, und sie sprachen über ihre, auch verstörende, Reaktion darauf: Das ist doch heute, und das bin doch ich!

In diesem Werk wie auch in andern von Christa Wolf werde, so verständigte man sich, Historie in die Gegenwart geholt. Dazu gehöre eine präzise Körperlichkeit, nah träten einem Personen und Orte. Christa Wolf lasse sich intensiv mit ihren Figuren ein, begegne ihnen zugleich mit Respekt. Doch die Welt ist zerrissen, und die Menschen sind es ebenso, gerade auch, vor allem, die Frauen. Das richte sich gegen die Macht der Männer, aber darüber hinaus gegen eine zähmende Rationalität. Dagegen steht das Ungebärdige, Unverständige, Unbezähmbare. Einen kurzen Vorschein einer anderen Möglichkeit gewähren Gemeinschaft, etwa mit andern Frauen, die aber, Kein Ort. Nirgends, an den Umständen scheitern.

Nach solch erstem Austausch lasen alle drei Schriftstellerinnen je eine Passage aus den Werken von Christa Wolf, und dann aus eigenen Werken, in denen sie mehr oder weniger explizit Bezug auf Christa Wolf nehmen. Friederike Kretzen präsentierte eine Passage aus ihrem jüngsten Roman, «Bild vom Bild vom grossen Mond», in dem sich bei einem Besuch im heutigen Iran verschiedene Zeitebenen verweben; zur Frage steht, was sich erzählen und überliefern lässt, und wo der Ort dafür wäre. Jasmine Keller las aus ihrem noch nicht veröffentlichten Roman, in dem, wie in «Kein Ort. Nirgends» der Selbstmord zum Thema wird, und Melinda Nadj Abonji stellte eine Übersetzung vor, die sie von Euripidesʼ «Iphigenie in Aulis» gemacht hatte, in denen der Bezug zur vielfältigen Auseinandersetzung mit der griechischen Antike bei Christa Wolf sogleich ersichtlich ist.

Über die einflussreichsten Bücher waren sich die Gesprächsteilnehmerinnen schnell einig, «Kein Ort. Nirgends» (1979), «Nachdenken über Christa T.» (1968), «Kassandra» (1983), auch «Kindheitsmuster» (1976); dazu kamen als weitere Empfehlungen «Medea» (1996), «Ein Tag im Jahr» (2003) und dann das letzte Buch «Stadt der Engel» (2010).

Der Rückbezug der Werke auf die DDR, die Bedeutung verschiedener Gesellschaftsformationen, wurde gestreift: Da sei die Würde einer Alternative vorhanden, die es zu retten galt. Bei aller unterschiedlicher Tonlage in verschiedenen Büchern könne man doch immer wieder Wolfs unverwechselbare Stimme hören, sei eine gemeinsame Herangehensweise und Erkenntnishaltung vorhanden: das Leben anderer wie das eigene genau, schonungslos und zärtlich, zu rekonstruieren. Schreiben erfahre man hier als Suche, auch als Zumutung. Denn auf der Spur der Erinnerung bleibe als einzige Rettung im Unbehausten, Zerrissenen die Sprache.

Das Publikum im vollen bücherraum f lauschte den Ausführungen intensiv und engagiert auch in eigenen Voten. Eine Zuhörerin sah sich in die eigene Geschichte versetzt, in der «Kassandra» immer in der Verschränkung von Friedens- und Frauenbewegung gelesen worden sei. Zum Schluss kam aufs Schönste eine nicht mehr so selbstverständliche kulturelle Fähigkeit zum Vorschein: Ein Besucher trug auswendig eine zum Thema passende Kalen-dergeschichte von Erwin Strittmatter über Leben und Tod und Nachwirken vor.

Utopie

Vor und nach dem Gespräch konnte man im bücherraum auf den Schaubannern eherne Sätze etwa aus «Kassandra» lesen: «Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter anderen Sätzen: Lasst Euch nicht von den Eigenen täuschen.» Aktuell zeigt sich darin der Sog durch Nationalismus sowie Ausgrenzungs- und Eroberungsphantasien. Oder wenn ein anderer Krieg schon da ist, wie es Jason in «Medea» verkündet: «Wir sollen die Weiber nehmen. Wir sollen ihren Widerstand brechen. Nur so graben wir aus, was die Natur uns verliehen hat, die alles überspülende Lust.» Dagegen die trostlose Antwort der Amazonenkönigin: «Lieber kämpfend sterben, als versklavt sein.» Da wirkt der Zuspruch, «So mag es, in der Zukunft, Menschen geben, die ihren Sieg in Leben umzuwandeln wissen», beinahe ebenso verzweifelt.

Das Thema utopischer Hoffnung wurde von Karin Aleksander am Montag, den 27. Mai zur Finissage der Ausstellung wiederum im bücherraum f aufgegriffen. Mit vielen Zitaten erläuterte sie das utopische Potential, wie es Christa Wolf in den drei Themenbereichen Feminismus, Frieden und alternativer Gesellschaftsform behandelt habe. Die Frage habe sie durchgängig beschäftigt und auch beunruhigt. Dabei wies Aleksander auf das produktive Verhältnis von Kritik und prospektiver Phantasie hin. Zu letzterer habe gehört, dass Christa Wolf 1989/90 die Präambel für eine neue Verfassung eines neuen Deutschlands schrieb, die schnell aus Abschied und Traktanden fiel. Dazu passte auch der Hinweis auf das Kunstwerk «Sturzlage», in dem Gabi Dolff-Bonekämper 2019 die Stühle des letzten Zentralen Runden Tisches der DDR im wirren Durcheinander präsentierte.

Die Ausstellung selbst ist auf etliches Interesse gestossen, in der pbz naturgemäss mehr als im bücherraum f. Der Christa-Wolf-Monat war zweifellos ein beachtlicher Erfolg. Im bücherraum f sind rund dreissig Bücher von und zu Christa Wolf vorhanden. Auf der Website werden nächstens die Podcasts der beiden Veranstaltungen im bücherraum aufgeschaltet.

Stefan Howald

Fotos: Nora Jäggi, K. Aleksander, Stefan Howald, dpa

 

 

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Vom spanischen Bürgerkrieg zum Naturschutz

Ihre wunderbaren Zeichnungen zum Grossen Kräuterheilbuch des Kräuterpfarrers Johann Künzle waren und sind massenhaft verbreitet, und sie hat etliche erfolgreiche Kinderbücher illustriert. Er hat während vierzig Jahren als Lehrer an der Zürcher Kunstgewerbeschule zahlreiche später bekannte KünstlerInnen unterrichtet, hat den Schriftzug für das Cafe Boy entworfen und gilt als klassischer Schweizer Zeichner. Pia Roshardt, geb. Meinherz (1892-1975), und Walter Roshardt (1897-1966) waren immer auch politisch engagiert, von der Unterstützung der spanischen Republik bis zum Naturschutz. Sie waren gut vernetzt in Kunst- und Politszene und haben das Zürcher Kunstleben während Jahrzehnten reich befruchtet.

Etliche Jahre waren sie in Vergessenheit geraten. Jetzt hat Adrian Knoepfli die erste Doppelbiografie über die Roshardts geschrieben, auch als ein Stück Kultur- und Zeitgeschichte. Im bücherraum f hat er sie kürzlich vorgestellt, anhand zahlreicher Illustrationen.

 

 

Der Vortrag ist im Folgenden nachzuhören. Dazu sind als pdf die besprochenen Bilder anzuschauen.

00 ROS WALZROSHARDT

 

Adrian Knoepfli: Roshardt und Roshardt. Zwei Leben für die Kunst. Verlag Hier und Jetzt. Zürich 2023. 272 Seiten mit 75 Abbildungen. 36 Franken.

 

 

 

 

 

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