Der Waren- und Machtcharakter der herrschenden Medizin

Bücherräumereien (XV): eine gelegentliche Rubrik über die Bestände des bücherraums f

«Grabe wo Du stehst!» Das war damals, in den 1960er und 1970er Jahren die Devise unseres alten Linkspropheten Theo Pinkus. Damit war gemeint, dass für einen jeden, eine jede von uns, die wir zur eben erwachten antiautoritären Linken gehören wollten, die Gesellschaft allüberall stattfand, im Privatleben, im Beruf und in fast allen Institutionen. Wollte man diesen Imperativ aber nicht nur aufs blosse Agieren beschränken, so war man es sich schuldig, sich auch das diesbezügliche gesellschaftliche Wissen anzueignen und eine passende kritische Theorie zu suchen und zu finden. Man trat einer Basisgruppe Medizin bei oder wurde Mitglied der progressiven Vereinigung unabhängiger Ärzte und Ärztinnen (VUA). Und weil man das Engagement nicht auf standespolitische und syndikalistische Aktivitäten beschränken wollte, suchte man nach theoretischer Reflexion zur gesellschaftlichen Rolle und Funktion der Medizin.

Es gab zwar damals schon die Arbeiten eines Ivan Illich, von Thomas Szasz, von Alexander Mitscherlich sowie von Franco Basaglia, aber die klugen Debatten zum Verhältnis von Theorie und Praxis mussten wir uns in der marxistischen Zeitschrift «Das Argument» beschaffen. Die hatten 1970 in einem Sonderband «Kritik der bürgerlichen Medizin» begonnen, was sich in verschiedenen Bänden mit «Argumenten für eine soziale Medizin» fortsetzte. 1976 erschien dann das erste «Jahrbuch für kritische Medizin». So wurden wir langsam mit dem Waren- und Machtcharakter der herrschenden Medizin vertraut und mit ihrer latenten Zugehörigkeit zum militärisch-industriellen Komplex. Denn es ging ja nicht nur um irgendwelche lokalpolitische Fragen, sondern auch um Probleme der medizinischen Ethik, sowie um moderne Entwicklungen wie etwa die Gentechnologie, die Epidemiologie und die schwierigen Grenzfragen zum Beginn und zum Ende des Lebens. In den laufenden Debatten des Argument-Verlags konnte man sich nicht nur über die Lage in der damaligen Bundesrepublik, sondern international informieren und, wo gewünscht, an den Diskussionen teilnehmen. Dabei durfte man sich allerdings nicht daran stören, dass «kritische Medizin» mit «sozialer Medizin» synonym gesetzt wurde, und tat immer gut daran, den einen Fuss trittfest auf dem Terrain der Praxis zu behalten.

Berthold Rothschild


Im bücherraum f sind folgende Argument-Sonderbände zur Medizin und zum Gesundheitswesen vorhanden:

 «Kritik der bürgerlichen Medizin» (Argument Nummer 60, Sonderband 1970), «Argumente für eine soziale Medizin II – VII» (Argument Nummern 69, 71, 78, 89; 1971-1976), «Soziale Medizin», Sonderbände 5, 7, 9, «Jahrbuch für kritische Medizin» 1 – 8 (1976-1982), 26, 39, 46, sowie drei weitere Sonderbände zum Gesundheitswesen.

Als «Jahrbuch für kritische Medizin und Gesundheitswissenschaft» erscheint das «Jahrbuch» noch heute unregelmässig im Argument-Verlag und ist mittlerweile bei der Nummer 52 (2018) angelangt.

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